Der blaue Vogel kehrt zurück
wisse, welcher Tag heute sei, wann ich geboren worden sei, wo ich in Brasilien wohne. Hör auf, Steenstra, entspann dich. Lass uns den Tag planen. Schau aus dem kleinen Fenster da, siehst du den Berg in der Ferne? Es ist gutes Wetter. Bleibe noch bis zur Grenze bei mir. Dann gehe ich allein weiter nach Spanien, zu dem Weiler, dessen Name mir entfallen ist, zu dem Bauernhof, wo ich wie ein König empfangen wurde. Man füllte einen großen Trog mit heißem Wasser für mich. Nach dem Bad legte ich mich hin. Eine Stunde später wurde ich zu einem leichten Abendessen geweckt. Man servierte mir eine Bouillon mit Brot und etwas, das wie dicker Joghurt aussah, aber anders schmeckte.
Das verpasst du dann alles, Steenstra, und wenn ich nach Barcelona reise, bist du auch nicht dabei. Zu Fuß, auf einem Karren, im Zug, aber den größten Teil der Strecke im Peugeot einesMannes, der beim Joint Distribution Committee arbeitete, einer Art internationalen jüdischen Rat, und mir Papiere beschaffte, mit denen ich ohne Schwierigkeiten mit dem Zug nach Lissabon fahren konnte.
Jene Etappe will ich selbst noch einmal allein durchleben, sage ich, aber seien Sie so gut und leisten Sie mir doch in den Bergen Gesellschaft.
Dr. Steenstra ist einverstanden, schlägt allerdings vor, dass auf meiner Karte mehr zu sehen sein soll als die mäandernde Linie zwischen den beiden Dreiecken. Ich lache ihn aus. Als ob wir Einfluss darauf hätten! Haben Sie Angst, sich in meinem Traum zu verirren? Man kann nie wissen, antwortet Steenstra.
Ich ziehe den Zettel aus der Manteltasche und sehe, dass es nach seinem Willen gegangen ist: Aus der Kinderzeichnung ist nun der Ausschnitt einer Generalstabskarte geworden, und ich kann zum ersten Mal meine Route deutlich erkennen. Die Höhle, in der ich mich mit Pierre vor dem Regen untergestellt habe, befindet sich bei den Falaises de Sourroque, und ab dem Col d’Escots sah ich in der Ferne das Massiv des Mont Valier liegen. Ich fuhr meinen Weg, der schließlich in Esterri d’Àneu – ja, da war es! – enden sollte, mit dem Finger nach. Und dort, bei dem Bergsee, der, wie sich herausstellt, Etang Long heißt, traute ich mich laute Freudenschreie auszustoßen, weil ich sicher war, dass nun nichts mehr schiefgehen konnte.
Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich diesen Namen zum ersten Mal gehört habe – denn dass ich keine solche Karte dabeihatte, steht fest –, doch es gelingt mir nicht, aus dem Traum auszusteigen. Ich weiß, dass ich in die Bibliothek von Diamantina gehen muss, Ende der vierziger Jahre. Ich sehe die Atlanten im Bücherregal stehen, doch es gelingt mir nicht, näher an dieses Erlebnis heranzukommen.
Sollen wir los?, fragt Steenstra. Ja, sage ich.
Wir legen ein zügiges Tempo vor. Manchmal geht es ordentlich hinauf oder hinunter, und an einer Stelle bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit dem Rücken an der Felswand durch einen schmalen, nur einen Meter breiten Spalt zu schieben, doch es fällt mir bereits leichter als in meiner Erinnerung.
Beim ersten See, Etang Rond, machen wir Halt.
Bis hierher, sage ich.
Den Triumph, diesen glückseligen Moment meiner Ankunft in Spanien, kann ich nicht einmal in der Fantasie teilen. Wir verabschieden uns voneinander, und ich gehe allein meiner Freiheit entgegen. Er kehrt um, geht zurück über die Berge, über die Hügel, durchs Flachland, in ein Holland, das noch nichts weiß von Verrat, Hunger oder der Besatzung.
Ich sehe ihn durch Amsterdam gehen, in dem Wissen, dass er sich vorgenommen hat, mein jüngeres Ich zu besuchen, wenn er schon mal da ist.
Es ist ein sonniger Tag, er schlendert durch Artis, schaut, ob ich irgendwo zwischen den Käfigen herumrenne.
Ich bin oft zu den Raubtieren gegangen, Steenstra, vielleicht sollten Sie es dort mal versuchen.
Beim schwarzen Panther lasse ich ihn in seinem weißen Arztkittel auf meine Freunde zugehen, er will sie fragen, ob sie Jonah Jacobson gesehen haben. Sie schicken ihn zum Boxclub, wo er Kosmann die Hand gibt und mit ihm ein gutes Gespräch über den Sinn des Lebens führt. Ich lege meinem alten Trainer Worte in den Mund: »Das Leben besteht aus einer Reihe von Täuschungsmanövern, Doktor, aber manchmal landen wir ein paar Treffer. Der schönste Hieb kommt aus dem Nichts: unerwartet, exakt, mit genau der richtigen Kraft und der perfekten Geschwindigkeit. In Gedanken hat man sein Ziel schon getroffen,man hört schon das Geräusch, das erst noch ertönen muss, hat den Sieg schon errungen,
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