Der blaue Vogel kehrt zurück
gehabt hätte, dass er ein Waldarbeiter oder ein Bauer war, würde keiner ihm glauben. Weder seine Konditionnoch die Selbstverständlichkeit, mit der er sich durch die Landschaft fortbewegte, konnten darüber hinwegtäuschen, dass er mit seinem gepflegten Äußeren seine Arbeitstage normalerweise am Schreibtisch verbrachte.
Und wie sollte ich meine Anwesenheit rechtfertigen? Was hatte Arie Voogt, ein Gärtner aus dem Westland, hier zu suchen? Und Jonah Jacobson, der Diamantarbeiter aus Amsterdam, bewegte sich erst recht in die falsche Richtung; wenn er überhaupt verreisen durfte, dann doch gewiss nur Richtung Osten.
An einem See legten wir eine Pause ein. Das Wasser war spiegelglatt, ich hörte nicht einen Vogel singen. Koos brach einen Schokoladenriegel entzwei und reichte mir die größere Hälfte.
»Das ist die Strijbeekse Heide«, flüsterte er. »Gleich geht es über einen Wassergraben nach Belgien. Ich bringe dich noch durch einen anderen Wald bis nach Meerle. Dort übergebe ich dich einem Mann, der dir neue Papiere beschafft und dich mit der Straßenbahn nach Antwerpen bringt. Hast du ein Foto dabei?«
»Ja.«
»Und Geld?«
»Genug«, sagte ich.
Es tat mir leid, dass ich mich so bald von ihm würde verabschieden müssen. Ich stellte mir vor, er würde mich in die Freiheit begleiten; ich bräuchte ihm nur zu folgen und käme wie von selbst, ohne jede Schwierigkeit, bis nach Portugal.
»Sollen wir weiter?«
Nach einer halsbrecherischen Fahrt querfeldein, über eine Bohlenbrücke und durch den Wald, erblickten wir eine Kirche mit zwei Türmen.
»Sieh mal da drüben«, sagte Koos, »das ist Sint-Salvator.«
Wir bogen in die Allee parallel zur Straße. Außer einem anderenFahrradfahrer waren wir auf der ganzen Strecke noch niemandem begegnet, doch hier kamen regelmäßig Bauernwagen vorbei. Beim Anblick eines deutschen Armeelasters vergaß ich einen Augenblick, dass ich mich lieber auf die Schlaglöcher konzentrieren sollte, und wäre um ein Haar gestürzt. Ich schämte mich für mein Ungeschick, doch Koos hatte es nicht bemerkt. Er behielt sein hohes Tempo bei. Erst einen Tag zuvor war ich noch an der Amstel entlanggerannt, meine Kondition war gut, trotzdem fiel es mir schwer, bei diesem Tempo mitzuhalten.
Wir drehten eine Runde um die Kirche, dann trat ein Mann aus dem Schatten und hielt uns an. Er hatte eine große Kappe tief in die Stirn gezogen. Ich konnte seine Augen nicht sehen, doch Koos nickte, und so musste ich davon ausgehen, dass ich ihm vertrauen konnte. Wortlos wechselte ich vom einen zum anderen. Koos stieg auf sein Fahrrad, nahm meines beim Lenker und fuhr davon.
»Tschüss, Arie.«
»Tschüss, Bruder.«
Meinen dritten Fluchthelfer, oder vielmehr den vierten, wenn ich Linda mitzählte, konnte ich nicht verstehen. Er begleitete mich zu einer Kneipe, deren Name mir entfallen ist. Als er mir die offene Hand hinhielt, legte ich ein Passfoto hinein. Er steckte es ein und sagte zum ersten Mal ein Wort, das ich zwar noch nie gehört hatte, aber trotzdem auf Anhieb verstand – eenzelvigheidskaart , das flämische Wort für Personalausweis –, und verschwand.
Ein blondes Mädchen brachte mich auf den Dachboden, wo ich mich zwischen Kisten und Kartons auf eine alte Matratze legen konnte. Ich wartete stundenlang. Las alle Buchstaben in meinem Blickfeld. Zählte die Anzahl Bretter an der Decke undbeschloss, dass das Rascheln in der Ecke von einer Maus stammen musste.
Am frühen Nachmittag hörte ich die Stufen knarren. Der Kneipenbesitzer brachte mir ein paar Butterbrote und einen Becher Milch.
»Wie einem Gefangenen«, sagte ich mit einem kleinen Lächeln.
Er zuckte die Achseln und verschwand mit todernster Miene wieder in der Luke.
Am nächsten Tag tauchte der Mann auf, der mich bei der Kneipe abgesetzt hatte. Er gab mir den belgischen Ausweis, nannte mir die Adresse, bei der ich mich melden sollte, und brachte mir die Parole bei, die mir Einlass verschaffen würde.
Die ganze Fahrt bis vor die Haustür des Koningin Astridplein 38 in Antwerpen hätte ich einfach Jonah Jacobson sein können; niemand sah mich zu lange an, niemand wollte meine Papiere sehen. Nicht mal die Straßenbahnfahrkarte wurde kontrolliert. Wenn ich weniger nervös gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht sogar an der Aussicht und den Menschen um mich herum erfreuen können.
Ich klingelte. Nachdem jemand vom Treppenabsatz im ersten Stock »Ja bitte?« heruntergerufen hatte, fragte ich, wie vereinbart, ob ich
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