Der Blaumilchkanal
hatten sie frei, um so an öffentlichen Vergnügungen wie Versammlungen teilzunehmen. Der Himmel neigte diesmal nicht dazu, gemeinsame Sache mit dem Schächter zu machen, und in völliger Mißachtung von Sfaradis Bannspruch der Exkommunizierung segnete der gütige Herr die Versammlung des Barbiers mit freundlichem Wetter.
Aus den Reihen der Versammelten ragten gewisse feindliche Schuhflickernikgesichter hervor, Gurewitsch selbst tauchte in letzter Minute persönlich auf und stand - von seinen Anhängern umgeben - in ominösem Schweigen am Rande des
Feldes. Ehrlich gesagt, hatte der Schuhflicker alles Recht zu kommen, weil Hassidoff ganz plötzlich gerissen wurde und den Dorfbewohnern nicht enthüllte, daß dies seine eigene, höchst persönliche Versammlung war. Er verbarg sich hinter dem schwungvollen Schlagwort:
»E ine V ersammlung für A nhänger der
R echtschaffenheit - mit Ü berraschungen !«
Diesmal führte nicht der Wirt den Vorsitz, weil Hassidoffs Magen sich jedesmal noch immer leicht drehte, wenn er sich an die Feier der Friseurgeschäftsjahresfeier erinnerte. Die Eröffnungsansprache hielt der kommunale
Gemeindeamtswächter, ebenfalls ein wichtiger Dorfbewohner.
»Meine Herren«, lautete die einfache Eröffnung des stämmigen Bauern oben auf dem hohen Podium. »Ich sehe, ihr seid allesamt hier, um zu hören, was uns Salman, dieser ungeheuerliche Ingenieur, einhämmern will. Lassen wir also Salman reden. Für mich ist das schwer.«
Daraufhin setzte sich der Wächter ruhig zurecht, und der Barbier erhob sich kampfbereit. Es waren nur noch wenige Tage bis zu den Wahlen, und Hassidoff erkannte die vor ihm liegende Herausforderung. Er legte das Zeitungsblatt vor sich auf den Tisch, zog trotz des kühlen Wetters die Jacke aus und krempelte die Ärmel bis zu den Schultern hoch. Dann streckte er die Hand aus, drückte dreimal auf die Tischglocke und brüllte in die allgemeine Stille: »Leitartikel!«
Eine Bewegung der Überraschung und Genugtuung ging durch die Zuhörer. Die unverständliche Eröffnung versprach, daß da Großes kommen würde. Und Hassidoff hielt dieses Versprechen:
»Wenn wir nach Beendigung unseres ersten Fiskaljahres der Unabhängigkeit den Weg, den wir zurückgelegt haben, sorgfältig auswerten sollen«, deklamierte der Barbier laut, »und wenn wir zusammenfassen sollen, was der Schoß der
Zukunft für uns umschlossen hält, müssen wir uns notwendigerweise fragen: >Wohin?< Wir möchten glauben, daß die Bedürfnisse der Nation untrennbar ineinander verschlungen sind und daß mit ihrer Befriedigung sowohl der Frieden als auch der Fortschritt unseres Volkes in dieser Ära liegen .«
Salman Hassidoff spürte, daß ihm Flügel gewachsen waren. Er war nur schwer imstande, sich zu beherrschen und zwischen den Sätzen nicht in ein wildes Triumphgeheul auszubrechen. Er deklamierte, er sprach, belehrte und rhetorisierte genau wie der Ingenieur mit erstaunlicher Flüssigkeit, äußerst verwirrend, mit der gleichen elementaren Gewalt, wie die reißende Flut des hochgehenden Flusses die Berge überschwemmt, jeden Widerstand, der sich ihr in den Weg stellt, überrennt, zerschmettert und zerstört. Die Zuhörer standen eingeschüchtert da, von frommer Ehrerbietung erfüllt. Selbst die benommenen Gegner des Barbiers wurden von der Macht seiner gigantischen Rhetorik überwältigt. Frau Hassidoff sah den Redner staunend an, und man konnte sehen, daß sie sich von neuem in ihren kahlköpfigen Gatten verliebte. Hassidoff läutete noch zweimal und fuhr fort:
»Die Wahl vor uns liegt zwischen Einheit und Trennung, zwischen Aufbau und Zerstörung, zwischen Sieg und Niederlage, zwischen Erfolg und Mißerfolg, zwischen Anstrengung und Trägheit, zwischen dem Geraden und dem Gewundenen. Die Erbauer des Staates dürfen die Pflichten nicht mißachten, die uns die Erneuerung auferlegt, wenn uns die Schwingen der Geschichte an unsere Mission der Bewährung erinnern, wenn der zionistische Traum in das Herz und die Seele der Nation eingeschrieben hat: Fortsetzung nächste Seite, Kolonne fünf!«
Hier endete der Leitartikel. Da die letzten Wörter, die in Klammern unten auf der Seite standen, etwas unklar waren, insbesondere dem Redner, drückte der Barbier wieder auf die Glocke und wiederholte sie: »Kolonne fünf!«
Die Zuhörer reagierten auf diese überraschende Wendung der Rede mit verwirrtem Schweigen. Niemand hatte es in Betracht gezogen, gerade diese
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