Der Blaumilchkanal
Minderwertigkeitsgefühle.
»Jetzt gleich?«
»Natürlich jetzt gleich«, donnerte die geschäftige Aktivistin. »Ich hoffe, ich fahre morgen früh weg ...«
Es sei der Ordnung halber angemerkt, daß Gula vom Augenblick ihrer Ankunft im Dorf an einen unwiderstehlichen Drang empfunden hatte, etwas zu organisieren. Sie konnte nicht zulassen, einen ganzen Tag müßig zu verbringen, und hier winkte jungfräulicher Boden.
»In Tel Aviv steht ein ganz modernes Waisenhaus unter unserer obhut«, unterrichtete sie die zwei Frauen. »In seinem Rahmen haben wir es mit zweihundertvier schmerzlich beraubten, einsamen Waisenkindern aus sämtlichen jüdischen Gemeinden zu tun, ohne irgendeine Hilfe oder Unterstützung von der Regierung.« »Gott! Zweihundertvier Waisenkinder!« Malka war erschüttert. »Und nur der Herr Ingenieur und Frau Dulnikker?«
»Ich heiße Gula«, erklärte die Aktivistin, »und nicht ich mit Dulnikker leiten das Projekt, sondern unsere Sozialabteilung.«
»Selbst so ist das sehr nett, Frau Dulnikker.«
»Ich heiße Gula«, bemerkte die geschäftige Frau und begann ihnen alles über die kleinen Unschuldigen zu erzählen, die so sehr von den großmütigen Einwohnern von Kimmelquell abhingen. Sie zog ein dickes Quittungsbuch aus ihrer Tasche, auf dem in Blau ein Foto glücklicher Kinder gedruckt war, die Münder vollgestopft mit Butterbrot, und auf dem in klaren Blockbuchstaben stand: >Danke sehr, Liga der werktätigen Frauen, für die Rettung der jüdischen Waisenkinder G.m.b.H.< Gula übergab das Quittungsbuch in die Obhut der Frau Hassidoff und erklärte den freiwilligen Helferinnen, wie sie von Haus zu Haus zu gehen hatten und wie sie einen Betrag gegen Quittung in der Höhe von einem Israeli-Pfund erbitten sollten.
»Wenn es uns gelingt, die Leiden dieser unglücklichen Waisenkinder auch nur ein wenig zu lindern, wird unser Projekt der Mühe wert gewesen sein«, beendete Gula ihre Rede und fügte hinzu: »Und jetzt viel Glück, Genossinnen .«
Die beiden Frauen starrten verblüfft die gutherzige Frau und ihr buntes Quittungsbuch an, wagten jedoch nicht, ihr offen zu widersprechen.
»Höre, Malka«, brummte Frau Hassidoff auf der Straße, »das ist nichts als ordinäre Bettelei!«
Malka zuckte schweigend die Achseln und klopfte leise an der Tür des Tierarzthauses, das am Rand des Dorfes lag.
»Reden wirst du«, platzte Frau Hassidoff heraus.
»Nein, du wirst reden«, sagte Malka beharrlich.
Die Tür öffnete sich einen schmalen Spalt, durch den Hermann Spiegels verschlafene und zornige Stimme drang.
»Wenn ihr der Kuh nicht soviel Wasser gegeben hättet, würde sie nicht soviel muhn!« keifte er durch den Spalt. Er versuchte sich wieder einzuschließen, aber Frau Hassidoff steckte gerade rechtzeitig die Schuhspitze zwischen Tür und Schwelle.
»Herr Spiegel, jetzt sind wir wegen etwas ganz anderem da. Wir sammeln Geld für arme Waisenkinder.«
»Was?« Er machte die Tür weit auf. »Wer ist gestorben?«
»Das wissen wir nicht, Herr Spiegel. Das weiß nur die Frau vom Ingenieur. Aber wenn Sie jetzt für die zweihundertvier Waisenkinder ein einziges Pfund spenden, gebe ich Ihnen ein kleines Bild, so wie das hier, und Ihr Name wird auch in die Kontobücher eingeschrieben. Das alles steht wirklich dafür, Herr Spiegel, weil es die Leiden der Waisenkinder lindert, deren Eltern nicht genug Geld haben, um sie in die Schule zu schicken. Natürlich, wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie nicht, wir sind auch nicht sehr gern hergekommen, aber wir wollten Frau Dulnikker nicht beleidigen, nachdem sie nun schon einmal diese kleinen Bilder hat drucken lassen. Ich weiß sehr gut, daß der Herr Spiegel nie genug Geld hat, weil ihn die Bauern nicht bezahlen, wenn sie sollten. Ich glaube, auch mein Mann schuldet dem verehrten Doktor etwas, aber Sie müssen auch Salman verstehen: Die Ernte war letztes Jahr so gut, daß die Tnuva einen sehr niedrigen Preis für den Kümmel bezahlte. Es sieht danach aus, daß wir auch heuer wieder leider genauso eine große Ernte haben werden. Deshalb sagte Salman erst gestern zu mir: >Wir werden den Gürtel enger schnallen müssen, Weib, wir müssen mit allen unnötigen Ausgaben aufhören.< Daher sage ich Ihnen, Herr Spiegel, daß ich selbst keinen roten Heller für Waisenkinder hergeben würde, die nicht meine eigenen sind. Wenn die Frau vom Ingenieur ihnen gar so sehr helfen will, dann soll sie selber für sie arbeiten gehen, dick genug ist sie dazu! Was glaubt sie
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