Der Blaumilchkanal
segnen!<, brachen die Zuhörer spontan in langanhaltenden Beifall aus.
Die erfreuliche Stimmung wurde jedoch schnell durch die Erwiderung des Ehrengastes verdorben. Der Barbier begann mit einer derartigen Schärfe, daß sie schon an Rohheit grenzte, und er verteilte nach links und rechts Andeutungen über gewisse Leute, die über seine Jahresfeier unglücklich seien, weil sie nicht günstigen Auges mitansehen könnten, daß er das Rasiermesser des Barbiers mit dem Schwert der Herrschaft vertauscht habe. Aber das störe ihn überhaupt nicht, weil er überzeugt sei, daß die Bürgerschaft wisse, wie sie den Mann schätzen sollte, der die kommunale Dorfangelegenheiten in den letzten Jahren gelenkt hatte, und daß sie alle bei den kommenden Wahlen für ihn stimmen würden ...
Der Schuhflicker am entgegengesetzten Ende der Tafel saß nicht müßig da, sondern begann Hassidoff mit Zwischenrufen zu unterbrechen, und behauptete, daß er, Zemach Gurewitsch, gemeint habe, sie feierten den 20. Jahrestag des Barbierladens
- der übrigens erst vor drei Jahren gegründet worden sei -, aber niemand hatte je etwas von einem bürgermeisterlichen Jahrestag gesagt. Worauf Frau Hassidoff dem Schuhflicker gepfeffert antwortete und die Verehrer des Schuhflickers unverzüglich unter den Zuhörern in ein ohrenbetäubendes Pfeifen der Verdammung ausbrachen.
»Ihr werdet mir nicht den Mund verbieten, ihr Schakale!« kreischte der Ehrengast. »Solange ich euer Bürgermeister bin, werdet ihr mich ehren, sonst lasse ich euch von meiner Polizeitruppe hinausschmeißen, samt eurem Schuster!«
Die Augen Gurewitschs spien Pech und Schwefel. Einen Augenblick schien es, daß er zum Kopfende der Tafel stürzen würde, aber schließlich drehte er sich einfach um und verließ den Kampfplatz in mörderischer Wut. Der Tumult unter den Feiernden schwoll zügellos an, und eine Drohung von Blutvergießen hing in der geladenen Atmosphäre, als das Unerwartete geschah. Der Herr Ingenieur bahnte sich einen Weg durch die lärmende Menge, sprang auf das Podium und stieß den Barbier beiseite.
»Meine Freunde!« rief Dulnikker, »dieser Skandal kann nicht so weitergehen!«
Der Ton formt den Töpfer
Als Amitz Dulnikker das Podium im Sturm nahm, verstummte die Menge. Nur der Schwiegersohn Gurewitschs am anderen Ende der Tafel griff sich an den Kopf, richtete seinen flehenden Blick himmelwärts und sagte zu seiner Frau:
»Wenn er auch hier zu reden anfängt, bekomme ich wiederum einen Nervenzusammenbruch!«
Der Staatsmann selbst hielt den Kopf hoch, atmete jedoch in seiner Aufregung so schwer wie irgendein Novize der Rednerkunst.
»Meine guten Freunde«, sagte er, »was um Gottes willen geht hier vor? Ich bin ein erfahrener Mann, aber wenn ich an das reizende, einfache und stille Dorf denke, das ich hier vorfand, als ich ankam, und an den streitsüchtigen, lärmenden Ort, den ich jetzt bald verlassen werde - ich schwöre, ich muß weinen .«
Dulnikkers Augen wurden tatsächlich feucht. Er stützte sich in plötzlicher Schwäche auf den Tisch, aber seine Stimme wurde stärker, bis sie so klar wie eh und je war. Einige Schritte weit von ihm entfernt nahm sein persönlicher Sekretär die Finger aus den Ohren und starrte den Staatsmann verblüfft an.
»Ihr wart wie eine große glückliche Familie. Ihr habt eure Arbeit und eure Freunde geliebt. Heute? Ihr habt gelernt, wie man argumentiert, Unsinn redet, und auch, wie man haßt. Nicht den Haß aus Zorn, sondern den Haß kalten Blutes aus kleinlicher Berechnung, zu dessen Parteigängern ihr eure Kinder gemacht habt. Wozu, meine Freunde? Warum? Habt ihr wirklich vergessen, wie die Berge aussehen, wie ein Kümmelfeld in der Blüte aussieht? Seid ihr nie im grünen Gras in der Sonne gelegen, stumm und friedlich, daß ihr denkt, der Schuhflicker und der Barbier seien alles, worauf es in dieser Welt ankommt? Was mit euch geschehen ist, übersteigt meinen Verstand, meine guten Freunde! Seid ihr krank?«
Amitz Dulnikker war überzeugt, daß er noch nie so primitiv gesprochen hatte und daß es ihm nur gelang, das Gefühl seines Herzens mit dem breiigen stammelnden Pathos eines sentimentalen alten Mannes auszudrücken.
»Bitte ändert die Dinge wieder so, wie es früher war, meine Freunde«, fuhr er flehend fort, »erneuert die Sitte der Dorfrunde, geht an die Arbeit auf den Feldern zurück. Wenn ihr es wünscht, dann wählt einen Bürgermeister, aber hört um Himmels willen mit diesem Tohuwabohu auf, bevor ihr
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