Der Blinde Uhrmacher - Ein neues Plädoyer für den Darwinismus
Vorfahren mit einem Hirnvolumen von etwa 500 Kubikzentimeter bis zum durchschnittlichen Hirnvolumen des heutigen homo sapiens, das etwa 1400 Kubikzentimeter beträgt. Dieser Anstieg um etwa 900 Kubikzentimeter, nahezu eine Verdreifachung des Hirnvolumens, ist in nur drei Millionen Jahren erreicht worden. An den Maßstäben der Evolution gemessen, ist das eine hohe Veränderungsrate: Das Gehirn scheint wie ein Ballon anzuschwellen, und in der Tat sieht der heutige menschliche Schädel, unter bestimmten Winkeln betrachtet, eher einem knolligen, runden Ballon ähnlich als dem flacheren, über den Augen zurückfliehenden Schädel des Australopithecus. Aber wenn wir die Zahl der Generationen in drei Millionen Jahren zusammenzählen (sagen wir etwa, vier pro Jahrhundert), so beträgt die Durchschnittsrate der Evolution weniger als ein Hundertstel Kubikzentimeter pro Generation. Die Karikatur eines Kontinuisten glaubt vermutlich, daß es Generation auf Generation einen langsamen, unausweichlichen Wandel gegeben hat, so daß in allen Generationen die Söhne geringfügig mehr Gehirn hatten als ihre Väter, genau gesagt, um 0,01 Kubikzentimeter mehr Gehirn hatten. Vermutlich soll dieses Extrahundertstel eines Kubikzentimeters jede nachfolgende Generation mit einem signifikanten Überlebensvorteil im Vergleich zur vorherigen ausstatten.
Aber ein Hundertstel Kubikzentimeter ist eine winzige Menge im Vergleich zur Bandbreite der Hirngrößen, die wir unter den heutigen Menschen finden. Es ist zum Beispiel eine oft zitierte Tatsache, daß der Schriftsteller Anatole France - kein Dummkopf, darüber hinaus Nobelpreisträger - ein Hirnvolumen unter 1000 Kubikzentimeter besaß, während am anderen Ende der Skala Gehirne von 2000 Kubikzentimeter nicht unbekannt sind: Oliver Cromwell wird häufig als Beispiel zitiert, wenn ich auch nicht weiß, mit welcher Authentizität. Der durchschnittliche Zuwachs von 0,01 Kubikzentimeter pro Generation also, von dem die Karikatur eines Kontinuisten annimmt, sie verschaffe einen signifikanten Überlebensvorteil, ist ein bloßes Hunderttausentstel des Unterschiedes zwischen den Gehirnen von Anatole France und Oliver Cromwell! Ein Glück, daß die Karikatur eines Kontinuisten nicht wirklich existiert!
Nun, wenn ein Kontinuist dieser Art eine nicht existierende Kreatur ist - eine Windmühle für die Lanzen der Intervallisten -, gibt es dann Kontinuisten anderer Art, die wirklich existieren und haltbare Ansichten vertreten? Ich werde zeigen, daß die Antwort Ja ist, und daß sich unter den Kontinuisten in diesem zweiten Sinne alle vernünftigen Evolutionstheoretiker befinden, auch jene, wenn man ihre Ansichten sorgfältig untersucht, die sich selbst als Intervallisten bezeichnen. Aber wir müssen verstehen, warum die Intervallisten dachten, ihre Ansichten seien revolutionär und aufregend. Der Ausgangspunkt für diese Fragen ist die scheinbare Existenz von »Lücken« bei den Fossilien; und mit diesen Lücken wollen wir uns jetzt befassen.
Seit Darwin wissen die Evolutionsbiologen, daß das gesamte uns zur Verfügung stehende Fossilienmaterial, in chronologischer Reihenfolge angeordnet, keine glatte Sequenz mit kaum wahrnehmbarem Wandel darstellt. Zwar lassen sich langfristige Trends der Veränderung unterscheiden - Beine werden immer länger, Schädel immer zwiebelförmiger usw. -, aber im Fossilienmaterial ausgedrückt sind diese Trends gewöhnlich schubweise, nicht allmählich. Darwin und die meisten anderen, die ihm folgten, haben angenommen, der Grund dafür liege hauptsächlich darin, daß die Fossilienunterlagen nicht vollständig sind. Darwin meinte, das Fossilienmaterial würde, wenn es vollständig wäre, tatsächlich einen sanften kontinuierlichen und nicht einen schubweisen Wandel zeigen. Aber da die Versteinerung eine so zufällige Angelegenheit ist und das Auffinden bestehender Fossilien kaum weniger zufällig, ist es so, als hätten wir einen Kinofilm, in dem die meisten Einzelbilder fehlten. Gewiß können wir eine gewisse Bewegung erkennen, wenn wir unseren Fossilienfilm ablaufen lassen, aber sie ist ruckartiger als in Charlie-Chaplin-Filmen, denn selbst im ältesten und verkratztesten Charlie-Chaplin-Film fehlen nicht 90 Prozent aller Einzelbilder.
Als die amerikanischen Paläontologen Niles Eldredge und Stephen Jay Gould 1972 zum ersten Mal ihre Theorie der »unterbrochenen Gleichgewichte« vorschlugen, trugen sie eine Idee vor, die seitdem völlig anders dargestellt worden ist.
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