Der Blinde Uhrmacher - Ein neues Plädoyer für den Darwinismus
sicher sein, daß sie eng verwandt waren, wenn sie eine sehr große Anzahl anatomischer Züge gemeinsam hatten. Die Molekularbiologie öffnete uns plötzlich eine neue Schatzkiste von Ähnlichkeiten, die der dürftigen Liste, wie Anatomie und Embryologie sie liefern, hinzugefügt werden konnte. Die 64 Identitäten (Ähnlichkeiten ist ein zu schwaches Wort) des gemeinsamen genetischen Wörterbuches bilden erst den Anfang. Die Taxonomie ist umgestaltet worden. Was früher einmal unsichere Schätzungen waren, ist zur statistischen Fast-Gewißheit geworden.
Die so gut wie vollständige Wort-für-Wort-Universalität des genetischen Wörterbuches jedoch ist für den Taxonomen zuviel des Guten. Nachdem sie uns einmal gesagt hat, daß alle Lebewesen Verwandte sind, kann sie uns nicht mehr sagen, welche Paare untereinander näher verwandt sind als mit anderen. Aber andere molekulare Information kann das, denn hier finden wir variable Grade von Ähnlichkeiten, nicht völlige Identität. Das Produkt der genetischen Übersetzungsmaschinerie sind, man erinnere sich, Proteinmoleküle. Jedes Proteinmolekül ist ein Satz, eine Kette von Aminosäureworten aus dem Wörterbuch. Wir können diese Sätze lesen, entweder in ihrer übersetzten Proteinform oder in ihrer ursprünglichen DNS-Form. Obgleich alle lebenden Wesen dasselbe Wörterbuch gemeinsam haben, bilden sie mit ihren gemeinsamen Wörterbüchern nicht alle dieselben Sätze, so daß wir unterschiedliche Grade der Verwandtschaft herausfinden können. Die Proteinsätze, obgleich in ihren Einzelheiten verschieden, sind in ihrem Gesamtmuster häufig ähnlich. Für jedes Paar von Organismen können wir immer Sätze finden, die ausreichend ähnlich und offensichtlich leicht verstümmelte Versionen desselben ererbten Satzes sind. Wir haben das bereits am Beispiel der geringen Unterschiede zwischen den Histonsequenzen von Kühen und Erbsen gesehen.
Die Taxonomen können nun molekulare Sätze in genau derselben Weise vergleichen, wie sie Schädel oder Beinknochen vergleichen. Man kann annehmen, daß sehr ähnliche Protein- oder DNS-Sätze von nahen Verwandten stammen, stärker unterschiedliche Sätze von weiter entfernten Verwandten. Diese Sätze sind alle aus dem universalen Wörterbuch von nicht mehr als 64 Wörtern gebildet. Das Großartige an der modernen Molekularbiologie ist, daß wir den Unterschied zwischen zwei Tieren exakt messen können, und zwar mit der genauen Anzahl von Wörtern, in der sich ihre Versionen eines besonderen Satzes unterscheiden. In Form des genetischen Hyperraums von Kapitel 3 ausgedrückt, können wir genau messen, wie viele Schritte ein Tier von einem anderen trennen, zumindest in bezug auf ein spezielles Proteinmolekül.
Ein zusätzlicher Vorteil der Verwendung von molekularen Sequenzen in der Taxonomie ist, daß, nach Meinung einer einflußreichen Schule von Genetikern, den »Neutralisten« (die wir im nächsten Kapitel wieder treffen werden), der Großteil des auf molekularer Ebene stattfindenden evolutionären Wandels neutral ist. Das bedeutet, daß er nicht durch natürliche Auslese bedingt, sondern de facto zufällig ist, und daß daher, von unglücklichen Ausnahmen abgesehen, kein Trugbild der Konvergenz den Taxonomen irreführt. Damit hängt die Tatsache zusammen, daß - wie wir bereits gesehen haben - jede Sorte von Molekül sich in recht verschiedenen Tiergruppen mit einer grob gesehen konstanten Rate zu entwickeln scheint. Das heißt, daß die Zahl der Unterschiede zwischen vergleichbaren Molekülen in zwei Tieren, sagen wir einmal, zwischen menschlichem Zellfarbstoff und dem Zellfarbstoff eines Warzenschweins, ein gutes Maß für die seit ihren gemeinsamen
Vorfahren verstrichene Zeit ist. Wir besitzen also eine recht genaue »Molekularuhr«. Diese Molekularuhr gibt uns eine Vorstellung nicht nur davon, welches Paar von Tieren die jüngsten gemeinsamen Vorfahren hat, sondern auch ungefähr davon, wann diese gemeinsamen Vorfahren gelebt haben.
Der Leser mag an dieser Stelle vielleicht durch eine scheinbare Unvereinbarkeit verwirrt sein. In diesem ganzen Buch haben wir die überragende Bedeutung der natürlichen Auslese betont. Wie können wir nun die Zufälligkeit der evolutionären Veränderung auf der Molekularebene hervorheben? Um Kapitel 11 vorwegzunehmen: Es gibt keinen Streit über die Evolution von Anpassungen, die das Hauptthema dieses Buches darstellen. Nicht einmal der extremste Neutralist glaubt, daß komplexe funktionsfähige
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