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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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das Leben und Werk seines Vaters sprechen, der gleichzeitig in seinem Kopf herumwühlte. Wortlos drehte er sich um. Es war das Leichteste, was er seit Jahren getan hatte. Er ging einfach weg.
    Mit offenem Fenster fuhr er nach Hause und ging dann zu Fuß zum British Institute, setzte sich in die letzte Reihe und lauschte mit halbem Ohr einer Kursstunde über den Gebrauch des Konditionals. Wenn ich die Psychologin getroffen hätte, ginge es mir besser. Hätte ich nicht die Nerven verloren, würde ich jetzt singend auf der Couch liegen. Es wäre hilfreich, wenn ich mit jemandem reden könnte.
    Er betrachtete die anderen Kursteilnehmer. Pedro. Juan. Sergio. Lola. Sergio? Seine Gedanken schweiften ab. Nennen wir diesen Irren eben Sergio. Er kann reden. Er sieht die Dinge klar. Er dringt ins Innere vor und stellt alles auf den Kopf. Er hat mit Eloisa geredet, ihr Hoffnung gemacht und ihr dann ihr hoffnungsloses Leben genommen. Warum rede ich nicht mit ihm? Er erzählt mir seine Geschichte, warum erzähle ich ihm nicht meine? Soll er doch diese grauenhaften Gestalten meiner Fantasie aus meinem Kopf reißen.
    »Javier?«, fragte die Lehrerin erstaunt.
    »Entschuldigung, ich habe wohl laut gedacht.«
    Falcón lachte still in sich hinein und grinste darüber, wie die Außenwelt in der hoch gewölbten Gotik seiner Gedanken geschrumpft war. Er könnte jahrelang in diesen Gewölben leben, dachte er und verbannte sich im gleichen Moment selbst aus ihnen wie einen Ketzer aus einer Kathedrale.
    Er schloss sich einer Gruppe anderer Kursteilnehmer an, die in die Bar Barbiana in der Calle Albareda gingen, um Bier zu trinken und Tapas zu essen – atún encebollado, tortillitas de camarones.
    Sie trennten sich, bevor Falcón bereit war, nach Hause zu gehen. War er dieser Tage überhaupt je bereit, nach Hause zu gehen? Sein Haus war ein Gefängnis, sein Zimmer eine Zelle, sein Bett eine Streckbank, auf der er Nacht für Nacht gefoltert wurde. Er wanderte durch die Stadt, hielt sich dicht neben größeren Gruppen in hell erleuchteten Bars und stellte sein Glas zwischen ihre Gläser, bis sie ihn bemerkten und ausgrenzten.
    Er beendete den Abend unter den hohen Palmen auf der Plaza del Museo de Bellas Artes. Die botellón war in vollem Gange, die Luft erfüllt von Haschischschwaden, Gläserklingen und dem leisen Tosen der ausgelassenen Menschheit.

Die Tagebücher
des Francisco Falcón
    30. Juni 1941, Ceuta
    Heute Nachmittag ist Pablito in mein Zimmer gekommen, hat sich aufs Bett gelegt, eine Zigarette gedreht und angezündet. Er will mir etwas erzählen. Das weiß ich, aber wie immer beachte ich ihn gar nicht. Ich war gerade dabei, eine Berberin zu zeichnen, die ich am Morgen auf dem Markt gesehen hatte. Pablito lümmelte demonstrativ gleichgültig auf meinem Bett herum und rauchte.
    »Wir gehen nach Russland«, sagte er. »Und machen die Roten in ihrem Land platt.«
    Ich legte meinen Bleistift zur Seite und sah ihn an.
    »General Orgaz hat unsere Einheit freiwillig gemeldet. Oberst Esperanza ist aufgefordert worden, ein Regiment auszuheben. Hier in Ceuta wird ein Bataillon aus Soldaten der Legion, Regulares und Flechas aufgestellt.«

    So habe ich Pablitos kleine Ankündigung in Erinnerung. Banal. Ich bin so gelangweilt, dass ich mitziehe. In den letzten paar Jahren ist so wenig passiert, dass ich dieses Tagebuch ganz vergessen hatte. Ich führe Tagebuch in meinen Zeichnungen, bin es nicht gewohnt zu schreiben. Vier Seiten, die zwei Jahre abdecken. Ist das nicht der Rhythmus des Lebens? Phasen der Veränderung, gefolgt von Phasen, in denen man sich an die Veränderung gewöhnt, bis man erneut den Drang nach Veränderung spürt. Langeweile ist mein einziges Motiv. Wahrscheinlich auch Pablitos, aber er versteckt es hinter antikommunistischer Rhetorik. Dabei hat er keine Ahnung vom Kommunismus.

    8. Juli 1941, Ceuta
    Im Hafen hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt, um uns zu verabschieden. General Orgaz hat eine anfeuernde Rede gehalten. Was wir vorher schon vermutet hatten, wissen wir jetzt mit Bestimmtheit – wir sind ein politisches Werkzeug. (Klinge ich schon wie Oscar?) Unsere Uniform sagt etwas über die Zustände in Madrid: Wir tragen die roten Barette der Carlisten, das blaue Hemd der Falangisten und die Khakihosen der Legion. Monarchisten, Faschisten und Militär harmonisch vereint.
    Die Deutschen lagern seit Monaten vor den Pyrenäen. Angeblich wollten sie uns eine Elitetruppe schicken, um Gibraltar einzunehmen, was

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