Der Blinde von Sevilla
Nachwelt etwas zu hinterlassen.«
»In einem Brief, der auf den Tagebüchern lag, hat er mich gewarnt, dass ich mich auf einen schmerzhaften Weg begeben könnte.«
»Und warum tun Sie es dann?«
Falcón rannte in eine Sackgasse seines Verstandes, eine glatte weiße Wand aus Angst. Sein Schweigen wurde tiefer.
»Was, sagten Sie, hätte Sie an dem Mordopfer so entsetzt?«, fragte sie.
»Dass man es gezwungen hat zu sehen …«
»Erinnern Sie sich noch, wen Sie auf den Fotos des Mordopfers gesucht haben?«
»Meine Mutter.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht.«
In dem nachfolgenden Schweigen stand Alicia auf, setzte einen Wasserkessel auf und kochte einen Kräutertee. Sie tastete nach zwei Porzellantassen, schenkte den Tee ein und fasste wieder sein Handgelenk.
»Interessieren Sie sich für Fotografie?«, fragte sie.
»Bis vor kurzem schon«, sagte Falcón. »Ich habe in meinem Haus eine eigene kleine Dunkelkammer. Ich mag Schwarzweißfotografien. Ich entwickele gern meine eigenen Bilder.«
»Wie betrachten Sie ein Foto?«, fragte sie. »Was sehen Sie?«
»Ich sehe eine Erinnerung.«
Er erzählte ihr von den privaten Filmen, die er sich am Nachmittag angesehen hatte, und dass sie ihn zum Weinen gebracht hatten.
»Sind Sie als Kind oft am Strand gewesen?«, fragte sie.
»Oh ja, in Tanger liegt der Strand direkt bei der Stadt … sogar fast in der Stadt. Im Sommer sind wir jeden Nachmittag dorthin gegangen. Mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter, das Hausmädchen und ich. Manchmal auch nur meine Mutter und ich.«
»Sie und Ihre Mutter.«
»Fragen Sie mich, wo mein Vater war?«
Sie antwortete nicht.
»Mein Vater hat gearbeitet. Er hatte ein Atelier mit Blick auf den Strand. Ich bin manchmal dorthin gegangen. Er hat aber auf uns aufgepasst. Das weiß ich.«
»Er hat auf Sie aufgepasst?«
»Er hatte ein Fernglas. Manchmal durfte ich hindurch sehen. Er hat mir geholfen, sie zu finden … meine Mutter, Manuela und Paco am Strand. Er hat gesagt, das wäre unser Geheimnis. ›So behalte ich euch im Auge.‹«
»Im Auge behalten?«
»Sie meinen, es klingt so, als hätte er uns ausspioniert«, sagte Falcón. »Aber das ergibt keinen Sinn. Warum sollte er seine eigene Familie ausspionieren?«
»Haben Sie in den Familienaufnahmen, die Sie heute angeschaut haben, je den Vater gesehen?«
»Nein, er war hinter der Kamera.«
Sie fragte ihn, warum er sich diese Filme angeschaut hatte, und er erzählte ihr die gesamte Jiménez-Geschichte. Sie hörte fasziniert zu und unterbrach ihn nur einmal kurz, um die Kassette umzudrehen.
»Aber warum sehen Sie sich diese Filme an«, fragte sie am Ende seiner Ausführungen noch einmal.
»Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt«, sagte er. »Ich habe gerade eine halbe Stunde lang …«
Er brach ab und dachte endlose Minuten lang nach.
»Ich habe Ihnen ja erklärt, dass ich in Fotos Erinnerungen sehe«, setzte er schließlich neu an. »Sie faszinieren mich, weil ich ein Problem mit meinem Gedächtnis habe. Gerade eben habe ich gesagt, dass wir als Familie immer an den Strand gegangen sind, aber eigentlich habe ich mich gar nicht daran erinnert. Ich habe es nicht vor mir gesehen. Es ist keine abrufbare Erinnerung. Ich habe fantasiert, um die Lücken zu füllen. Ich weiß, dass wir an den Strand gegangen sind, aber ich habe es nicht als meine eigene Erfahrung im Gedächtnis. Drücke ich mich einigermaßen verständlich aus?«
»Absolut.«
»Ich möchte, dass diese Filme und Fotos meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen«, sagte er. »Als ich mit José Manuel Jiménez über die Tragödie seiner Familie geredet habe, behauptete er, Schwierigkeiten zu haben, sich an seine Kindheit zu erinnern. Daraufhin habe ich versucht, meine früheste Kindheitserinnerung zu benennen, und bin in Panik geraten, weil ich wusste, dass da nichts war.«
»Jetzt können Sie auch meine Frage beantworten, warum Sie die Tagebücher lesen«, sagte sie.
»Ja, ja«, bestätigte er, als wäre etwas in seinem Kopf eingerastet. »Ich missachte seinen Wunsch, weil ich denke, dass in diesen Tagebüchern ein geheimer Zugang zu meinen Erinnerungen verborgen ist.«
Das Band blieb klickend stehen. Ferne Stadtgeräusche erfüllten den Raum. Er wartete, dass sie ein neues Band einlegte, aber sie machte keine Anstalten dazu.
»Das war alles für heute«, sagte sie.
»Aber ich habe gerade erst angefangen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber wir werden Ihr Inneres wohl kaum in einer einzigen Sitzung
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