Der Blinde von Sevilla
mir Malzeug und etwas zu trinken zu kaufen.
25. Oktober 1942, Triana, Sevilla
Es muss der Soldat in mir sein, jedenfalls habe ich mir einen festen Tagesrhythmus geschaffen, auch wenn ich nicht mehr früh aufstehe. In dieser Stadt passiert vor zehn Uhr sowieso nichts. Als Erstes gehe ich in die Bodega Salinas auf der Calle San Jacinto, trinke einen Kaffee und rauche eine Zigarette. Ich komme hierhin, weil Manolo, der Besitzer, die besten Fässer tinto in der ganzen Stadt hat. Daraus lasse ich mir meine Fünf-Liter-Flaschen abfüllen. Außerdem verkauft mir Manolo einen selbst gebrannten aguardiente , den ich ihm literweise abnehme. Dann kehre ich in mein Zimmer zurück und arbeite bis drei Uhr nachmittags, nur unterbrochen vom Wasserverkäufer. Anschließend esse ich in der Bodega zu Mittag und trinke einen Krug tinto , bevor ich auf mein Zimmer zurückkehre, bis sechs Uhr schlafe und dann noch einmal bis zehn Uhr arbeite. Danach esse ich bei Manolo zu Abend und trinke mit den Gaunern und Schwachköpfen, die dort verkehren.
29. Oktober 1943, Triana, Sevilla
Gestern hat sich in der Bodega Salinas ein Gast zu mir an den Tisch gesetzt, der als Tarzan bekannt ist (nach dem Film Tarzan, der Affenmensch ). Er hat einen riesigen Bauch und ein Gesicht wie ein Haufen Kartoffeln (Johnny Weismüller wäre entsetzt). Seine Augen sind zusammengekniffen, die Tränensäcke aufgedunsen. Na ja, er hat sich hingesetzt, und alle haben unserem Gespräch zugehört.
»Und«, sagt er und legt seinen fleischigen Arm auf den Tisch, »warum siehst du so aus?«
»Wie sehe ich denn aus?«, frage ich verwirrt.
Tarzan hat nichts Aggressives an sich, obwohl sein Gesicht zerschunden aussieht. Er trägt einen schwarzen Hut, den er nie abnimmt, sondern nur gelegentlich in den Nacken schiebt, um sich die Stirn zu kratzen.
»Als ob du hier nicht hingehörst«, antwortet er ruhig, doch ich spüre, wie er mich aus den Schlitzen seiner Augen mustert wie durch ein Visier.
»Ich weiß nicht genau, was du meinst.«
»Du bist nicht aus Sevilla. Du bist kein Andalusier.«
»Ich stamme aus Marokko, Tétouan und Ceuta«, sage ich, aber das stellt ihn nicht zufrieden.
»Du guckst uns an und machst dir Notizen. Du hast alte Augen in einem jungen Kopf.«
»Ich bin Künstler«, sage ich. »Ich mache mir Notizen, um mich an die Sachen zu erinnern, die ich gesehen habe.«
»Was hast du gesehen?«, fragt er.
Mir wird klar, dass diese Leute mir nicht glauben, sondern mich für ein Mitglied der Guardia Civil (die immer ortsfremd sind) oder etwas noch Schlimmeres halten.
»Ich war Soldat«, sage ich, das Wort Legion bewusst vermeidend. »Ich bin mit der División Azul in Russland gewesen.«
»Wo?«, fragt ein säbelbeiniger Typ, ein stadtbekannter Picador.
»Dubrowka, Teremez und Krassnij Bor«, sage ich.
»Ich war in Schewelewo«, sagt er, und wir geben uns die Hand.
Alle sind erleichtert. Wie sie haben glauben können, dass ein Mitglied der Geheimpolizei sich in einer Kneipe offen Notizen über sie (die dümmste Idiotentruppe Südspaniens) machen könnte, bleibt mir schleierhaft.
15. Dezember 1943, Triana, Sevilla
Ein junger Mann von vielleicht 20 Jahren betritt das Lokal. Er nennt sich Raúl, und alle kennen und mögen ihn. Er hat in Madrid gearbeitet, doch an jenem ersten Abend spricht er ständig davon, nach Tanger zu gehen, wo richtig Geld zu machen ist. Sie hören geduldig zu und erklären ihm dann, dass er mit El Marroquí reden soll, was mein neuer Spitzname ist. R. setzt sich an meinen Tisch und berichtet mir von den Reichtümern, die man mit dem Schmuggel von Waren aus Tanger verdienen kann. Ich entgegne, dass ich genug Geld habe und nur daran interessiert bin, Künstler zu werden. Er beharrt, dass man mit amerikanischen Zigaretten jede Menge Geld machen kann, aber im Grunde lohne sich wegen der amerikanischen Blockade der spanischen Häfen jede beliebige Ware. Seine einzige Sorge ist, dass die Amerikaner nach dem Abzug der Blauen Division aus Russland nachsichtiger gegen Franco werden und die Blockade aufheben könnten. Das lässt mich die Ohren spitzen; er ist nicht bloß ein Schwachkopf, der nichts als Peseten im Kopf hat, sondern jemand, der die wahre Situation begreift. Ich lade ihn ein, denn seine Gesellschaft ist wesentlich anregender als die der Stammgäste der Bodega Salinas. Er erklärt mir, dass wegen Tangers Freihafenstatus alle Waren zoll- und steuerfrei gehandelt werden dürfen. Alles ist sehr billig. Man muss es nur kaufen
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