Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
gestört worden waren.
    Falcón war froh, dass Pérez dabei war, um auf den Großteil von Ramírez’ Bemerkungen zu reagieren. Er hatte nicht erwartet, dass ihn die flackernden Schwarzweißbilder von Raúl Jiménez’ früherem glücklicherem Leben derart aufwühlen würden. Im Kino hatten ihn Bilder noch nie so bewegt, die Fiktion hatte das nie geschafft. Immer hatte er die Berechnung dahinter erkannt und sich der notwendigen Identifikation verweigert.
    Doch diesmal kannte er die Protagonisten, und so sah er in der Dunkelheit zu, wie José Manuel und Marta am Strand spielten, während die Wellen ans Ufer brandeten. Raúls Frau Gumersinda trat ins Bild, drehte sich um und breitete die Arme aus. Nach ihr kam der kleine Arturo ins Bild gewackelt, streckte die Hände nach ihren Armen aus, und sie umfasste seine kleine Brust und hob ihn hoch über ihren Kopf. Er strampelte mit den Beinen und blickte mit einem Ausdruck reinen und wilden Entzückens auf ihr lächelndes Gesicht herunter. Als der Kleine in die Luft geworfen wurde, drehte sich Falcóns Magen um. Er musste gegen die Tränen anblinzeln, während sein Körper unter dem Gewicht der Tragödie bebte, die diese Familie zerrissen hatte.
    Warum ihn die Familie Jiménez und ihr trauriges Geschick so mitnahmen, konnte er dabei selbst nicht erklären. Er hatte schon öfter Familien getroffen, die von Mord oder Vergewaltigung, Drogensucht oder extremer Gewalt zerstört worden waren. Was machte die Jiménez’ so anders? Er musste dringend darüber reden, bevor er völlig zusammenbrach. Alicia Aguado … würde es mit ihr klappen?
    Das Licht im Raum ging an, und Ramírez und Pérez drehten sich zu ihrem Vorgesetzten um.
    »Von dem Kram gibt es noch etliche Rollen«, sagte Ramírez. »Was machen wir hier eigentlich genau, Inspector Jefe?«
    »Wir erweitern unser Profil des Mörders«, sagte er. »Von den Digi-Prints aus dem Video, das wir auf dem Friedhof aufgenommen haben, haben wir eine Vorstellung davon bekommen, wie er aussieht. Wir haben gehört, dass er guapo ist und schöne Hände hat. Körperlich nimmt er Gestalt an. Und mental: Wir haben über seine Kreativität und seine Verspieltheit geredet. Wir wissen, dass er sich fürs Filmen interessiert. Wir wissen, dass er die Familie Jiménez eingehend studiert hat …«
    Er merkte, dass ihm die Worte ausgingen. Warum sahen sie sich diese Filme an?
    »Der Karton mit diesen Filmen war versiegelt«, wiederholte Pérez seinen Bericht. »Diese Rollen haben seit dem Tag ihrer Einlagerung kein Tageslicht mehr gesehen.«
    »Und welcher Tag war das?«, fragte Falcón wie ein Ertrinkender, der sich an vorbeischwimmende Strohhalme klammerte. »Der Tag, an dem Raúl Jiménez die Erinnerung an seinen jüngsten Sohn aus seinem Gedächtnis gelöscht hat.«
    »Aber inwiefern hilft uns das bei unserem Profil des Mörders?«, fragte Ramírez.
    »Ich muss immer wieder an die schrecklichen Verletzungen denken, die er sich selbst zugefügt hat«, sagte Falcón. »Bevor Jiménez sich das angetan hat, hat er sich geweigert, etwas anzusehen, was auf dem Bildschirm lief. Daraufhin wurden seine Augenlider abgeschnitten – und was hat er dann gesehen? Was könnte Raúl Jiménez dazu gebracht haben, sich das anzutun?«
    »Wenn jemand meine Augenlider abgeschnitten hätte …«, setzte Pérez an.
    »Sie haben den Jungen gesehen, den winzigen, hilflosen Jungen«, sagte Falcón. »Sie haben ihn in den Armen seiner Mutter kreischen und johlen gehört … Meinen Sie nicht …?«
    Er hielt inne. Die beiden Männer sahen ihn mit harten Blicken an, ihre Mienen waren leer und verständnislos.
    »Aber, Inspector Jefe …«, sagte Pérez, »der Film hatte doch gar keine Tonspur.«
    »Ich weiß, Inspector …«, begann Falcón, und auf einmal machte sich eine umfassende Leere in seinem Kopf breit, nicht einmal mehr an den Namen seines Kollegen konnte er sich erinnern. Kein einziges Wort wollte ihm einfallen, mit dem er den begonnenen Satz hätte weiterführen können. Er war zu einem Schauspieler geworden, der seinen Text nicht mehr wusste, in dem Part, den er am meisten fürchtete: die Hauptrolle in seinem eigenen Leben.

    Dann kam er wieder zu sich, und die Realität strömte wieder auf ihn ein. Die Männer hatten begonnen, den Projektor abzubauen. Überrascht stellte Falcón fest, dass es fast neun Uhr abends war. Er musste hier raus, doch vorher musste er noch etwas tun, um die Situation zu retten. Er ging zur Tür.
    »Sie schreiben einen Bericht über

Weitere Kostenlose Bücher