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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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entwirren. Dies ist ein langer Prozess. Es gibt keine Abkürzungen.«
    »Aber wir haben doch gerade … ich meine, wir haben gerade angefangen, bestimmte Punkte zu berühren.«
    »Das ist richtig. Es war eine gute erste Sitzung«, sagte sie. »Ich möchte, dass Sie über einige Dinge nachdenken. Ich möchte, dass Sie sich fragen, ob Sie irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen der Familie Jiménez und Ihrer eigenen erkennen.«
    »Beide Familien haben gleich viele Kinder … ich war der Jüngste …«
    »Ich meine nicht jetzt sofort.«
    »Aber ich muss Fortschritte machen.«
    »Das haben Sie schon, aber der menschliche Verstand kann nur begrenzt viel Realität auf einmal aufnehmen. Sie müssen sich erst daran gewöhnen.«
    »An die Realität?«
    »Darum bemühen wir uns.«
    »Aber wo leben wir jetzt, wenn nicht in der Realität?«, fragte er, ernsthaft beunruhigt von dem Gedanken. »Meine tägliche Dosis Realität ist größer als die der meisten anderen Menschen, die ich kenne. Ich bin Kommissar beim Morddezernat. Leben und Tod sind mein Geschäft. Realitätsnäher kann man gar nicht sein.«
    »Aber das ist nicht die Realität, von der wir sprechen.«
    »Das müssen Sie mir erklären.«
    »Die Sitzung ist beendet.«
    »Erklären Sie mir nur noch diese eine Sache.«
    »Ich werde versuchen, es Ihnen mit einer Analogie zu verdeutlichen«, begann sie. »Vor zehn Jahren habe ich beim Spülen ein Weinglas zerbrochen und mir dabei einen winzigen Splitter in den Daumen gerammt. Ich konnte ihn nicht herausziehen, und der Arzt wollte wegen der benachbarten Nervenstränge nichts unternehmen. Im Laufe der Jahre hat es manchmal ein bisschen wehgetan, mehr nicht, und der Körper hat sich die ganze Zeit vor dem Glassplitter geschützt. Er hat Hautschichten darum gebildet, bis der Splitter wie eine winzige Erbse war. Und dann hat der Körper ihn eines Tages abgestoßen. Die Erbse kam an die Oberfläche und war mit Hilfe von ein wenig Magnesiumsulfat ganz aus meinem Daumen zu entfernen.«
    »Und das soll Ihre Erklärung für die Art von Realität sein, von der wir hier reden?«
    »Glassplitter können auch in die Seele eindringen«, sagte sie, und schon bei der Vorstellung wurde ihm übel. »Manchmal sind diese Splitter zu schmerzhaft, um sich mit ihnen zu befassen. Wir schieben sie in die hintersten Nischen unseres Gehirns. Wir glauben, dass wir sie vergessen können. Unser Verstand beschützt uns sogar vor ihnen, indem er diese Splitter umhüllt … mit Lügen. Bis eines Tages irgendetwas passiert und ein Splitter scheinbar völlig grundlos wieder an die Oberfläche unseres Bewusstseins dringt. Der Unterschied zwischen Körper und Geist besteht darin, dass wir den Glassplitter nicht mit Magnesiumsulfat in unser Bewusstsein ziehen können.«

    Er stand auf und begann, in dem kleinen Zimmer auf und ab zu laufen. Die Vorstellung winziger Glassplitter, die an die Oberfläche drängten, hatte ihn in Panik versetzt. Fast konnte er sie in seinem Kopf knirschen hören.
    »Sie haben Angst«, sagte Alicia, »und das ist ganz normal. Der Prozess ist nicht leicht. Und er verlangt Mut. Doch die Belohnung ist riesig. Die Belohnung besteht darin, dass man irgendwann echten Seelenfrieden finden kann und damit vor dem Neubeginn aller Möglichkeiten steht.«
    Er ging die Treppe hinunter, weg von dem Licht, das aus Alicias Tür fiel, hinaus auf die dunkle Straße. Ihren letzten Satz wendete er im Kopf hin und her und verdaute die Tatsache, dass sie ihn offenbar an einem Punkt glaubte, an dem das Ende aller Möglichkeiten wahrscheinlich war.
    Auf der Straße ging er eilig neben einer Gruppe von jungen Menschen her, die in die Innenstadt strebten. Die meisten Straßen waren leer, die Stadt war noch verkatert von der Ekstase und den Exzessen der Semana Santa. Fast alle Lokale waren geschlossen und würden erst am nächsten Tag wieder öffnen, wenn die Sevillanos zu ihrem normalen Lebensrhythmus zurückgefunden hatten. Falcón lief über Plätze, die selbst unter der Woche normalerweise voller Menschen waren, jetzt jedoch wie ausgestorben dalagen. Man hörte nur vereinzelte Stimmen, wie sonst spätnachts, die Straßenfeger waren schon unterwegs und unterhielten sich laut über die Fußballergebnisse des vergangenen Abends. Und auch in seinem eigenen Kopf herrschte nicht das übliche, atemlose Gedränge des Alltags.

    Die vereinzelten Stimmen verstummten. Er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, schlenderte stattdessen ziellos durch die Straßen und verglich

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