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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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die Veränderung Ihrer mentalen Stabilität mit dem Beginn der Ermittlung in einem besonders brutalen Mordfall eingesetzt. Außerdem hat er Ihren Vater und Ihren Widerwillen erwähnt, sich von irgendwem behandeln zu lassen, der die Werke Ihres Vaters kennen könnte. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum der erste Zwischenfall … – Was war denn das?«
    »Was?«
    »Das Wort ›Zwischenfall‹ hat bei Ihnen eine starke Reaktion provoziert.«
    »Das Wort taucht in den Tagebüchern meines Vaters auf, die ich gerade zu lesen begonnen habe. Es bezieht sich auf etwas, das vorgefallen ist, als er 16 war, und das ihn aus seinem Elternhaus vertrieben hat. Aber er sagt nie, was es war.«
    Nachdem er die Wirksamkeit ihrer Methode erkannt hatte, musste Falcón den Drang unterdrücken, ihr seine Hand wieder zu entreißen. Alicia Aguado schien nicht nur einen Sensor für die menschliche Anatomie, sondern auch für die Verrenkungen seiner Seele zu haben.
    »Glauben Sie, dass das der Grund dafür war, dieses Tagebuch zu führen?«, fragte sie.
    »Sie meinen, um diesen ›Zwischenfall‹ zu verarbeiten?«, fragte Falcón. »Ich glaube nicht, dass das seine Absicht war. Ich glaube, er hätte gar nicht angefangen, Tagebuch zu führen, wenn nicht einer seiner Kameraden ihm das Buch geschenkt hätte, damit er etwas hineinschreibt.«
    »Manchmal werden einem solche Menschen geschickt.«
    »So wie mir der Mörder geschickt worden ist?«
    Sie ließ die Frage wortlos im Raum stehen.
    »Alles, was in diesem Zimmer gesagt wird, ist vertraulich, das gilt auch für polizeiliche Ermittlungen. Die Kassetten werden in einen Safe eingeschlossen«, sagte sie dann. »Ich möchte, dass Sie mir erzählen, wodurch alles ausgelöst wurde.«
    Er erzählte ihr von Raúl Jiménez’ Gesicht und wie der Mörder gewollt hatte, dass Jiménez sich etwas anschaute, was dieser partout nicht sehen wollte. Falcón ersparte ihr kein Detail davon, wie es sich angefühlt haben musste, ohne Augenlider wieder zu sich zu kommen, und wie das in Verbindung mit dem, was der Mörder ihm gezeigt hatte, Raúl Jiménez zu seiner grausamen Selbstverstümmelung getrieben hatte. Er glaubte, dass sein Zusammenbruch mit dem Anblick dieses Gesichtes begonnen hatte, weil er darin den Schmerz und das Entsetzen eines Menschen erkannt hatte, der gezwungen worden war, sich dem größtmöglichen Grauen in sich selbst zu stellen.
    »Glauben Sie, dass der Mörder sich selbst als eine Art professionelle Kapazität sieht?«, fragte sie. »Dass er sich in gewisser Weise für einen Psychologen oder Psychoanalytiker hält?«
    »Ah!«, sagte Falcón. »Sie meinen, ob ich ihn so sehe?«
    »Tun Sie das?«
    Er schwieg, bis Alicia Aguado entschied, das Gespräch weiter voranzutreiben.
    »Sie haben irgendeine Verbindung zwischen diesem Mordfall und Ihrem Vater hergestellt.«
    Er berichtete ihr von den Fotos aus Tanger, die er in Raúl Jiménez’ Arbeitszimmer gefunden hatte.
    »Wir haben dort auch einmal eine Weile gelebt«, sagte er. »Ich dachte, dass ich meinen Vater vielleicht auf einem der Fotos entdecken würde.«
    »Das war alles?«
    »Ich dachte, dass ich vielleicht auch ein Foto meiner Mutter entdecken würde«, sagte er. »Sie ist 1961 in Tanger gestorben. Damals war ich fünf Jahre alt.«
    »Und haben Sie sie gefunden«, fragte Alicia.
    »Nein, habe ich nicht«, antwortete er. »Aber ich habe im Hintergrund eines der Fotos meinen Vater entdeckt, der die Frau küsste, die dann später meine zweite Mutter … ich meine, seine zweite Frau werden sollte. Das Datum auf der Rückseite war noch vor dem Todestag meiner Mutter.«
    »Untreue ist so ungewöhnlich nicht«, sagte sie.
    »Meine Schwester ist ganz Ihrer Meinung. Sie hat gesagt, er wäre ›kein Engel‹ gewesen.«
    »Hat das Ihre Sichtweise auf Ihren Vater beeinflusst?«
    Falcón dachte konzentriert nach. Zum ersten Mal in seinem Leben erkundete er aktiv die engen Gassen seines Verstandes. Auf seiner Stirn brach Schweiß aus, den er mit der freien Hand abwischte.
    »Ihr Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Standen Sie sich nahe?«
    »Ich dachte es zumindest. Ich war sein Liebling. Ich … ich … jetzt bin ich durcheinander.«
    Er erzählte ihr von dem Testament seines Vaters und seinem ausdrücklichen Wunsch, dass der Inhalt seines Ateliers vernichtet werden sollte. Ein Wunsch, den er durch die Lektüre der Tagebücher missachtete.
    »Halten Sie das für seltsam?«, fragte sie. »Berühmte Menschen sind doch normalerweise bestrebt, der

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