Der Blinde von Sevilla
dabei die Familie Jiménez mit seiner eigenen. Auch seine Familie war auseinander gerissen worden – nein, das war zu stark formuliert. Der plötzliche Tod seiner Mutter hatte die Familie nicht zerstört; doch er hatte sie beschädigt und haarfeine Risse hinterlassen, wie in der Glasur von getöpfertem Geschirr. Er sah das gramvolle Gesicht, mit dem sein Vater nacheinander Paco, Manuela und ihn angeschaut hatte. Und aus irgendeinem Grund sah er auch sein eigenes schmerzzerrissenes Gesicht und den offenen Mund, mit dem er diesen Verlust, diesen Raub seiner gesamten Welt beweinte. Die Gedanken wühlten eine gespenstische Finsternis in ihm auf, sodass er seine Schritte über die glänzenden Pflastersteine beschleunigte.
Bessere Zeiten kamen ihm in den Sinn. Die sonnige Ankunft von Mercedes, die die zweite Frau seines Vaters werden sollte. Javier hatte sie sofort innig geliebt. Damals. Jetzt war seine Erinnerung getrübt durch das Foto, das er in Raúl Jiménez’ Wohnung gefunden hatte: Sein Vater hatte sie schon gekannt und umworben, bevor seine Mutter gestorben war. Die Finsternis in seinem Inneren wurde noch schlimmer, und er hastete über die Plaza Nueva.
Er kam an Ramón Salgados Galerie vorbei, in der nur eine einzelne Skulptur hell erleuchtet im Fenster stand. Ein Stück die Straße hinunter stand ein traditionelles sevillanisches Haus, in dessen Café und Edel-Restaurant Geschäftsleute und Rechtsanwälte mit ihren Frauen und Freundinnen verkehrten.
Von hinten beleuchtet, stand Inés auf der obersten Stufe und ließ sich in den Mantel helfen. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, so wie sie es nur trug, wenn sie attraktiv und sexy wirken wollte. Er konnte den Mann, mit dem sie zusammen war, nicht erkennen, auch nicht, als sie untergehakt auf die dunkle Straße traten und Richtung Reyes Católicos gingen. Sie waren nicht in Gesellschaft, ein Abendessen zu zweit. Er erstarrte, als Inés kurz stehen blieb und sich umsah, bevor sie mit auf dem Pflaster klappernden Absätzen ein Stück schneller lief, um ihren Begleiter einzuholen. Falcón folgte ihnen auf der anderen Straßenseite, sein Hunger und die beginnende Erschöpfung waren vergessen.
Sie überquerten die Reyes Católicos, folgten kurz der Calle Bailén und gingen dann hinter dem Museum vorbei über die Plaza del Museo, sodass Falcón sich zurückfallen lassen musste, bis sie in der Calle San Vincente verschwunden waren. Er wartete einen Moment und nahm die Verfolgung dann wieder auf, doch die Straße war leer. Hatte er sich das Ganze nur eingebildet? Oder wohnte Inés’ Begleiter kaum einen Kilometer von seinem eigenen Haus entfernt in dieser Straße?
Geschlagen wie eine ganze Armee, zog er sich nach Hause zurück; der Hunger war weg, verdrängt von der Erschöpfung der Niederlage. Er duschte, nahm eine Schlaftablette und kroch unter sein Laken. Dort starrte er wie hypnotisiert an die sich scheinbar endlos dahinziehende Decke, bis er in die Dunkelheit stürzte und in den Schlaf fiel.
Die Tagebücher
des Francisco Falcón
12. Oktober 1943, Triana, Sevilla
Ich hatte Glück. Ein Armeelaster hat mich von Toledo bis nach Sevilla mitgenommen. Das Land ist am Boden, es gibt kein Benzin und kaum etwas zu essen. Die Straßen sind bis auf vereinzelte, von ausgezehrten Pferden oder Eseln gezogene Karren leer.
Ich habe mir ein Zimmer genommen, das von einer fetten, maurisch aussehenden Frau vermietet wird. Sie hat lange schwarze Haare bis ins Kreuz, die sie zu einem Dutt aufwickelt. Ihre schwarzen Augen sind matt wie Holzkohle, und sie schwitzt ununterbrochen, als stünde sie ständig am Rande eines Zusammenbruchs. Ihre Brüste haben sich voneinander verabschiedet und führen auf beiden Seiten ihres Brustkorbs ein Eigenleben. Ihr Bauch ist dick wie der eines Trinkers und schwabbelt beim Gehen unter ihren schwarzen Röcken. Ihre Knöchel sind violett geschwollen, und wenn sie von Zimmer zu Zimmer geht, keucht sie wie unter Schmerzen. Ich würde sie gern malen, am liebsten nackt, doch sie hat einen männlichen Begleiter. Er ist dünn wie ein Dorfköter und trägt ein Messer bei sich, das ich ihn jeden Morgen liebevoll wetzen höre, bevor er ausgeht. In meinem Raum steht eine Kommode mit Schubladen, von denen sich keine öffnen lässt, und ein Bett, über dem ein Bild der Heiligen Jungfrau aufgehängt ist. Ich habe das Zimmer genommen, weil es zu einem Patio hinaus liegt, den nur die Vermieterin für ihre Wäsche benutzt. Ich stelle meine Sachen ab und gehe los, um
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