Der Blinde von Sevilla
Tagebuch, doch es war sehr nachlässig geführt. Der erste Eintrag erklärte immerhin, warum Salgado überhaupt damit begonnen hatte. Er war glücklich. Er stand kurz vor der Hochzeit mit einer Frau namens Carmen Blázquez. Falcón, der gar nicht gewusst hatte, dass Salgado einmal verheiratet gewesen war, las grummelnd weiter – schon mit 33 klang Salgado gestelzt und salbungsvoll. »Francisco Falcón hat mir die große Ehre erwiesen, sich bereit zu erklären, mein testigo, mein Trauzeuge, zu sein. Sein Genie wird den Anlass zu einem gesellschaftlichen Ereignis machen, über das man in Sevilla noch lange reden wird.« Kein Wunder, dass er das Tagebuch nicht weitergeführt hatte. Der Mann hatte schlicht nichts zu sagen. Bewegende Worte fand er nur über seine neue Frau. Dann vergaß er alle gekünstelten Schnörkel und schrieb unverstellt. »Ich liebe Carmen mit jedem Tag mehr. Sie ist ein guter Mensch; das hört sich an, als wäre sie langweilig, aber ihre Güte berührt jeden, der sie trifft. Wie Francisco sagt: ›Sie lässt mich die Hässlichkeit meines Lebens vergessen. Wenn ich in ihrer Gesellschaft bin, komme ich mir vor, als wäre ich immer nur ein guter Mensch gewesen.‹«
Falcón versuchte, sich vorzustellen, wie sein Vater diese Worte gesagt hatte, und entschied, dass Salgado sie frei erfunden hatte. Er öffnete den Umschlag mit den Fotos und fand eines von Carmen, das auf Juni 1965 datiert war. Sie sah aus wie Ende 20. Ihr Gesicht hatte nichts Besonderes bis auf ihre kurzen, dunklen und vollkommen geraden Brauen, die sie ernsthaft und besorgt aussehen ließen, so als würde sie gut auf ihren Mann Acht geben.
Am 25. Dezember 1967 schrieb Salgado: »Gestern Abend vor dem Essen bin ich in meine Kindheit zurückversetzt worden. Meine Eltern hatten uns immer erlaubt, ein Geschenk nicht erst am Weihnachtsmorgen, sondern schon Heiligabend auszupacken. Und Carmen hat mir das größte Geschenk meines Lebens gemacht. Sie ist schwanger. Wir sind unermesslich glücklich, und ich bin von all dem Champagner ziemlich betrunken.«
Das Tagebuch schilderte Carmens ereignislose Schwangerschaft, unterbrochen von öden Details über erfolgreiche Ausstellungen und Verkaufszahlen. Erwähnt wurde der Kauf eines Tonbandgeräts, mit dem Salgado Carmens Gesang aufnehmen wollte, was ihm jedoch nie gelang, weil sie vor dem Mikrofon zu verlegen war. Er war fasziniert von Carmens riesigem schwangeren Bauch. Er fragte sie sogar, ob sie sich von Francisco Falcón in diesem Zustand malen lassen würde, doch der Vorschlag entsetzte sie. Der letzte Eintrag lautete: »Der Arzt hat mir erlaubt, den ersten Schrei meines Kindes auf dieser Welt aufzunehmen, obwohl die Bitte ihn zu amüsieren scheint. Offenbar sind Männer nie bei der Geburt dabei. Ich frage Francisco, wo er bei der Geburt seiner Kinder war, und er sagt, dass er sich nicht daran erinnern kann. Als ich ihn frage, ob er nicht bei Pilar war, ist er verblüfft. Bin ich der einzige Mann in Spanien, den dieser gewaltige Augenblick fasziniert? Und Francisco, ein Künstler von seinem Genie – ich hätte gedacht, dass eine Geburt für ihn eine unwiderstehliche Inspiration wäre.«
Eine eigenartige Schlussbemerkung. Falcón zählte die Monate zurück und rechnete aus, dass das Baby im Juli hätte geboren werden müssen, wenn sie ihre Schwangerschaft Ende Dezember verkündet hatte. Er durchsuchte die Truhe nach einer Geburtsurkunde. In einem fleckigen blauen Ordner fand er die Antwort – es war der am 5. Juli 1968 ausgestellte Totenschein für Carmen Blázquez. Der beiliegende medizinische Bericht sprach von einer akuten Eklampsie mit Ödemen und erhöhtem Blutdruck, die zu einer katastrophalen Geburt und schließlich zum Tod von Mutter und Kind geführt hatte.
Dieser Mann musste schrecklich einsam gewesen sein. Falcón sah ihn alleine speisen, verloren durch die Geschäftsstraßen streifen und sich verzweifelt um Anschluss bemühen. Dieser Mann, der sein ganzes Leben dem Genie Francisco Falcóns geweiht hatte, lief herum wie ein Zombie, während seine einzige Chance, glücklich zu werden, in einer Truhe auf einem trockenen, staubigen Speicher lagerte.
Falcón betrachtete das nächste Foto aus dem Umschlag, das Carmen und Ramón an ihrem Hochzeitstag zeigte. Sie hielten sich an der Hand, und in dieser Berührung schien ihr ganzes Glück enthalten. Falcón war erstaunt, wie gut der junge Salgado aussah. Die folgenden 35 Jahre hatten ihn ruiniert, das Leid war eine Last geworden, die
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