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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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November 1946, Tanger
    Heute hat mich ein Amerikaner besucht, ein wahrhaft stattliches Exemplar der Gattung Mensch. Er hat sich als Charles Brown III. vorgestellt und darum gebeten, meine Arbeiten sehen zu können. Bei all den Amerikanern, die plötzlich im Café Central aufgetaucht sind, hat sich mein Englisch sehr verbessert. Ich möchte nicht, dass er durch meine Zeichnungen blättert, und erkläre ihm, dass ich die Werke erst vernünftig ausstellen muss und dass er am Nachmittag wiederkommen soll. Das lässt mir Zeit, von R. in Erfahrung zu bringen, dass er der Repräsentant Barbara Huttons, der neuen Königin der Kasba ist. Ich arrangiere die Arbeiten, die ich zeigen will, und als er zurückkommt und wir den Raum gemeinsam betreten, sage ich: »Alles steht zum Verkauf bis auf diese hier.« Dabei weise ich auf die Zeichnung von P. Gerüchteweise ist der Sidi-Hosni-Palast ein Universum des Reichtums geworden, das sogar R.s Vorstellungen übersteigt. Jedes der 30 Zimmer soll über eine goldene Kaminuhr von Van Cleef & Arpels verfügen, deren Stückpreis bei 10000 Dollar liegt. Wenn jemand bereit ist, eine Drittel Million Dollar auszugeben, um zu wissen, wie spät es ist, dann erkennt dieser Jemand den Wert der Dinge wohl nur an ihrem Preis. »Für 20 Dollar wird sie dir keine Zeichnung abkaufen«, sagt R. »Sie weiß ja gar nicht, wie viel das ist. Für sie ist das so wenig wie ein Centavo für uns.« Ich erzähle ihm, dass ich in meinem ganzen Leben noch kein Bild verkauft habe. »Dann solltest du dein erstes Bild nicht unter 500 Dollar verkaufen.« Er hat mich die Verkaufstechnik gelehrt, die ich jetzt anwende. Ich folge Charles Brown durch das Zimmer, kommentierte die einzelnen Arbeiten und spüre dabei sein verzweifeltes Bemühen, zu der Zeichnung von P. zurückzukommen. Am Ende fragt er: »Nur interessehalber, was kostet der Kohle-Akt?« Ich erkläre ihm erneut, dass er unverkäuflich ist. Er hat keinen Preis. Immer wieder sagt er »nur interessehalber«, und ich antworte: »Ich weiß es nicht.« Er kehrt zu dem Werk zurück, während ich, R.s Drehbuch folgend, auf der anderen Seite des Zimmers stehen bleibe, rauche und aussehe, als würde ich mich amüsieren.
    »Wissen Sie«, sagt er, »das sind alles sehr interessante Arbeiten. Sie gefallen mir. Und das meine ich ernst. Ich mag sie. Die ineinander greifenden Muster in der maurischen Tradition, das strukturierte Chaos. Die kargen Landschaften. Das alles spricht mich an. Aber wir reden hier nicht von mir. Ich kaufe für meine Kunden. Und das ist es, was meine Kunden wollen. Nicht die kühlen intellektuellen Sachen … nicht für die Leute, die nach Tanger kommen. Sie kommen wegen der … wie soll ich mich ausdrücken? … der orientalischen Verheißung.«
    »An die Nordwestspitze Afrikas?«, frage ich.
    »Das ist eher bildlich gemeint«, antwortet er. »Es bedeutet, dass sie auf der Suche nach etwas Exotischem, Sinnlichem, Geheimnisvollem sind … Ja, geheimnisvoll muss es sein. Warum ist dieses Bild unverkäuflich?«
    »Weil es mir wichtig ist. Es repräsentiert eine für mich neue und noch junge Entwicklung.«
    »Das sehe ich. Ihre anderen Zeichnungen sind perfekt … sehr sorgfältig beobachtet. Aber diese hier … ist anders. Sie ist so enthüllend … und doch verboten. Vielleicht ist es das. Das Wesen des Geheimnisvollen besteht darin, dass es etwas von sich enthüllt, zum letztendlichen Wissen verlockt und dieses Wissen doch gleichzeitig verbietet.«
    Hat Charles Brown etwa was geraucht, frage ich mich. Aber er meint es ernst. Er drängt mich, einen Preis zu nennen, doch ich gebe nicht nach. Er sagt mir, sein Kunde müsse die Arbeit sehen, aber ich gebe sie nicht aus dem Haus. Er beendet unsere Diskussion mit dem Satz:
    »Keine Sorge, ich werde den Berg schon zum Propheten bringen.«
    Beim Gehen schüttelt er meine feuchte Hand. Ich zittere vor Aufregung. Schweißgebadet reiße ich mir die Kleider vom Leib und lege mich nackt auf den Boden. Ich rauche eine von dem halben Dutzend Haschischzigaretten, die ich jeden Morgen vorbereite. Dabei betrachte ich die Zeichnungen von P. und bin priapeisch wie Pan. Wie durch Gedankenübertragung taucht einer von C.s Jungen auf, und ich kann meinen Dampf ablassen.

    4. November 1946
    Zwei Tage lang liege ich in einem Zustand kontrollierter Nonchalance in meinem Zimmer. Meine Ohren sind gespitzt, um noch das leiseste Klopfen an meiner Haustür zu hören. Ich schlafe ein, und als es endlich klopft, breche ich an die

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