Der Blinde von Sevilla
er in seinem Gesicht mit sich herumtrug.
Eigentlich hätten als Nächstes die Tonbänder Falcóns Aufmerksamkeit verlangt, doch er blätterte weiter die Fotos durch, bis er auf eine Aufnahme von seinem Vater stieß, wie er lachend mit Carmen im Garten saß. Es stimmte, dass sein Vater sich immer zu »guten« Frauen hingezogen gefühlt hatte. Seine Mutter, Mercedes … sogar die exzentrische Encarnación wurde toleriert, weil sie »eine gute Frau« war. Er ging den Stapel weiter durch, bis ihm klar wurde, dass das alle Fotos sein mussten, die Salgado von Carmen besessen hatte, unterschiedlich groß und mit verschiedenen Fotoapparaten aufgenommen. Er musste seine Frau systematisch aus dem fotografischen Gedächtnis seines Lebens getilgt und in dieser Truhe begraben haben.
Die Bänder. Der Gedanke daran ließ seine Hände feucht werden. Er wollte nicht hören, was auf diesen Bändern war. Zitternd fädelte er den Magnetstreifen über die Tonköpfe und spielte das erste Band ab. Erleichtert stellte er fest, dass es vollkommen leer war.
Das zweite Tonband platzte mitten in ein Gespräch zwischen Salgado und Carmen. Er flehte sie an zu singen, doch sie weigerte sich. Ihre Absätze klackerten hin und her, während Salgado sie beschwor und zuletzt regelrecht anbettelte, damit er etwas hatte, das ihn an sie erinnerte, falls sie vor ihm sterben sollte. Das Gespräch blendete in klassische Musik und zuletzt in einen Flamenco über, und Falcón spulte das Band im Schnellvorlauf bis zum Ende.
Das dritte Tonband begann mit Albinonis Adagio, gefolgt von weiteren aufwühlenden Stücken von Mahler und Tschaikowski. Das Einfädeln des vierten Bandes bereitete ihm große Mühe, weil seine Hände glitschig von Schweiß waren. Zunächst hörte man nur ein ätherisches Zischen, doch dann kam alles, was er befürchtet hatte. Schreie, Appelle und Panik, rennende Schritte auf harten Böden, Stahltabletts, die auf die Fliesen krachten, umstürzende Tische und Trennwände, reißendes Material. Dann ertönte der letzte Schrei eines Menschen, der ins offene Meer gespült wird und den ohnmächtigen Geliebten am Ufer zurücklässt. »Ramón! Ramón! Ramón!« Dann ein lautes Klicken und Stille.
Die gläserne Schreibtischplatte stützte ihn. Carmens letzte Schreie hatten ihn wie Schläge getroffen, ihn zutiefst aufgewühlt.
Er konzentrierte sich auf seine Atmung – die beruhigende Wirkung eines motorischen Reflexes. Dann schaltete er das Tonband ab und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Schuldgefühle darüber, wie grausam er zu diesem alten Freund seines Vaters gewesen war, drohten, ihn zu übermannen, Gedanken an all die Male, die er ihn vor dem Haus in der Calle Bailén hatte stehen sehen und nur gedacht hatte, nein, nicht die alte Nervensäge. Andererseits waren da die widerwärtigen Dateien, die sie in seinem Computer gefunden hatten. Was war mit dem Mann geschehen, nachdem er seine Frau verloren hatte? War das Leiden sein Antrieb gewesen? Hatte es ihn jene nichtswürdige Straße hinunter getrieben, an deren Ende die einsame Lasterhaftigkeit der Selbststrangulation beim Betrachten geschändeter Kinder gestanden hatte? Vielleicht hatte es immer in seiner Natur gelegen, und er hatte dieses schreckliche Potenzial erkannt, doch dann war Carmen in sein Leben getreten und hatte ihm die Chance gegeben, ein guter Mensch zu sein. Eine Chance, die ihm brutal wieder entrissen worden war.
Baena kam mit einer großen Plastiktüte.
»Im Haus sind wir jetzt fertig, Inspector Jefe«, sagte er und gab ihm den Beutel. »Und Serrano hat zusammen mit Jorge den Garten durchkämmt. Das einzig Interessante im gesamten Anwesen war das hier. Es ist eine Peitsche, wie sie religiöse Spinner benutzen, um sich selbst zu geißeln. Mea culpa. Mea culpa. « .
»Wo haben Sie sie gefunden?«
»In der hintersten Ecke eines eingebauten Kleiderschrankes im Schlafzimmer«, sagte Baena. »Aber keine Dornenkronen oder härene Hemden.«
Falcón stieß ein grunzendes Lachen aus und trug Baena auf, den Inhalt der Truhe aufzulisten und sie zur Jefatura zu transportieren. Er ließ Serrano zurück, um das Haus zu versiegeln, und fuhr in die Innenstadt. Dort parkte er in der Calle Reyes Católicos, aß im Stehen eine tapa – solomillo al whisky – und ging dann die Calle Zaragoza hinauf bis zu Salgados Galerie, deren Ausstellungsraum im Dunkeln lag.
Greta, Salgados Sekretärin, eine gebürtige Schweizerin, saß an ihrem Schreibtisch auf der Rückseite des
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