Der Blinde von Sevilla
Ausstellungsraums und starrte ins Leere. Ihre Augen waren verquollen und verheult.
»Sie sollten nach Hause gehen«, sagte Falcón, doch Greta wollte nicht allein sein. Sie erzählte ihm, dass sie heute ihr zehnjähriges Jubiläum als Salgados Sekretärin feierte. Auf der diesjährigen Feria hatten sie ein kleines Fest zu diesem Anlass geplant. Sie verlor sich in Erinnerungen und Phrasen darüber, »was für ein guter Mensch Ramón war«. Falcón fragte sie, ob ihr irgendwelche Künstler einfielen, die Ramón nicht gemocht hatten oder vielleicht von ihm abgelehnt worden waren.
»Es kommen ständig Künstler hier herein. Studenten, junge Leute. Ich kümmere mich um sie. Sie begreifen nicht, wie das Geschäft läuft und dass Ramón auf dieser Ebene nicht tätig ist. Einige stürmen hinaus, als ob wir ihr Genie nicht verdienen. Andere fangen an zu reden, und wenn ich sie mag, lasse ich mir ihre Arbeiten zeigen. Wenn sie gut sind, sage ich ihnen, zu wem sie gehen können. Ramón hat diese Leute nie zu Gesicht bekommen.«
»Wie viele von ihnen zeigen Ihnen Installationen mit Filmen, Video oder Computergrafik?«
»Mehr als die Hälfte. Von den Jungen malt heute kaum noch einer.«
»Aber das ist nicht Ramóns Stil, oder?«
»Es ist nicht der Stil seiner Kunden, die eher konservativ sind. Sie können den Wert dieser neuen Kunstart nicht erkennen. Auf einem solchen Level geht es vor allem um Geld und Investitionen … und eine CD mit irgendwelchem digitalisiertem kreativem Kram sieht einfach nicht aus und fühlt sich auch nicht an wie eine Zehn-Millionen-Peseten-Anlage.«
»Waren von den etablierten Künstlern, die er vertreten hat, vielleicht einige unzufrieden?«
»Er hat sehr eng mit seinen Künstlern zusammengearbeitet. In dieser Hinsicht hat er sich keine Fehler erlaubt.«
»Was war im letzten halben Jahr? Erinnern Sie sich an irgendetwas Verdächtiges, eine unangenehme oder erniedrigende …«
»Er war nicht mehr so auf seine Arbeit konzentriert. Er hat sich Sorgen um seine Schwester gemacht und war viel auf Reisen. Vor allem im Fernen Osten – Thailand, die Philippinen.«
Die Vorstellung, dass Salgado seine Bedürfnisse mit asiatischen Jungen befriedigte, ließ Falcón erschauern, der blonden Greta und ihrer unbefleckten Erinnerung gegenüber fühlte er sich mit seinem neuen Wissen irgendwie schmutzig.
»Hat Ramón je über seine Frau gesprochen?«, fragte er.
»Ich wusste gar nicht, dass er verheiratet war«, sagte sie. »Er war ein sehr zurückgezogener Mensch. Mir kam er nicht einmal typisch spanisch vor. Er hatte viel von der Reserviertheit eines Schweizers an sich.«
Wie verschieden wir uns gegenüber den Menschen darstellen, dachte Falcón. Bei einer Frau, die er nicht hatte beeindrucken müssen, war Salgado ruhig, autoritär, freundlich und diskret gewesen, gegenüber Falcón hingegen stets ölig, lästig, schwülstig und aufgeblasen. Mit einem guten Gedächtnis könnten wir für jeden beliebigen Menschen jemand anders sein – jeder von uns ein Schauspieler und jeden Tag ein neues Stück.
Er ging hoch in Salgados Büro, in dem nun Ramírez und Fernández hemdsärmelig zu beiden Seiten des Schreibtischs saßen.
»Hier kommen wir nicht viel weiter«, sagte Ramírez. »Das Beste war, was Greta uns in der ersten halben Stunde gegeben hat, nämlich eine Kundenliste, eine Liste der von ihm früher und aktuell vertretenen Künstler sowie eine Liste derjenigen, die er abgelehnt hat. Der Rest sind Briefe, Rechnungen, der übliche Kram. Kein Briefwechsel zwischen ihm und Señora Jiménez. Keine kleine Botschaft von Sergio: ›Du bist erledigt.‹«
Es war schon spät. Falcón sagte, sie sollten Schluss machen, fuhr selbst jedoch noch einmal zur Jefatura. Die Truhe von Salgados Speicher war bereits eingetroffen. Er nahm den Film und fädelte ihn in Raúl Jiménez’ noch aufgebauten Projektor ein. Der Film musste ein Geschenk gewesen sein, vielleicht sogar vom Besitzer dieses Projektors selbst. Er bestand aus sieben Sequenzen mit Ramón und Carmen, die in jeder dieser Aufnahmen glücklich wirkten. Salgado verehrte seine Frau offensichtlich. Der Blick, den er ihr zuwarf und der an ihrer Wange haften blieb, während sie sich der Kamera zuwandte, war unmissverständlich.
Falcón saß mit den flimmernden Bildern im Dunkeln. Niemand war da, für den er sich hätte zusammenreißen müssen. Er weinte, ohne zu wissen warum, und verachtete sich gleichzeitig dafür.
Die Tagebücher
des Francisco Falcón
2.
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