Der Blinde von Sevilla
haben Sie und Raúl Jiménez sich kennen gelernt?«
»Auf der Feria de Abril 1989. Ich wurde von einem gemeinsamen Freund in seine caseta eingeladen. Er war ein ausgezeichneter Sevillana-Tänzer … nicht das übliche Rumgeschlurfe, was man bei Männern sonst sieht. Er hatte es einfach drauf. Wir waren ein sehr gutes Paar.«
»Sie müssen damals Anfang 30 gewesen sein. Und er über 60.«
Intensiv zog sie an ihrer Zigarette, drückte sie dann aus und trat ans Fenster, wo sie zu einer dunklen Silhouette vor dem hellblauen Himmel wurde. Sie verschränkte die Arme.
»Ich wusste, dass das passieren würde«, sagte sie, den Mund an der kalten Scheibe. »Das Umgraben und Bohren. Deswegen wollte ich zuerst etwas von Ihnen. Ich wollte nicht, dass Sie mein Leben in die Polizeimaschine werfen, die es auf ein paar DIN-A4-Blättern einfängt, auf denen kein Platz für Nuancen und Ambivalenzen ist, die kein Grau, sondern nur Schwarz oder Weiß sehen können und eigentlich nur Augen für das Schwarze haben.«
Sie drehte sich um. Er rutschte auf seinem Stuhl vor, um ihr Gesicht im Gegenlicht zu erkennen, schaltete dann die Schreibtischlampe an und musterte Consuelo Jiménez aufs Neue. Vielleicht war ihre anfängliche Härte etwas, das sie im Zusammenleben und -arbeiten mit Raúl Jiménez gelernt hatte. Die Kleidung, der Schmuck, die Fingernägel, die Frisur – vielleicht hatte Raúl Jiménez sie so gewollt, und sie trug es wie eine Rüstung.
»Mein Job ist es, die Wahrheit zu finden«, sagte er. »Das tue ich seit mehr als 20 Jahren. In dieser Zeit haben ich und die kriminalistische Wissenschaft hunderte von Techniken entwickelt, die uns auf dieser Suche nach einer beweisbaren Wahrheit behilflich sind. Ich würde Ihnen gerne sagen können, dass es sich mittlerweile um eine exakte Wissenschaft handelt, dass es überhaupt wissenschaftlich ist, aber das kann ich nicht, weil wie in der Wirtschaft, einer weiteren so genannten Wissenschaft, Menschen beteiligt sind, und wo Menschen beteiligt sind, gibt es Variablen, Unvorhersehbares, Mehrdeutigkeiten … mildert das Ihre Sorge, Doña Consuelo?«
»Vielleicht ist Ihr Beruf gar nicht so anders als der Ihres Vaters.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Vergessen Sie’s«, sagte sie. »Sie haben mich nach meinem Mann und dem Altersunterschied zwischen uns gefragt, danach, wie wir uns getroffen haben.«
»Es kommt mir nur ungewöhnlich vor, dass eine attraktive Frau Anfang 30 einen …«
»Einen hässlichen alten Knacker wie Raúl nimmt«, beendete sie seinen Satz. »Ich bin sicher, ich könnte mir jetzt ein paar passende Sätze über die emotionale und ökonomische Stabilität reiferer Männer ausdenken, aber ich glaube, wir haben eine Übereinkunft, oder, Inspector Jefe? Also werde ich Ihnen die Wahrheit sagen. Raúl Jiménez hat mich hartnäckig verfolgt, mich in die Ecke gedrängt, mich unter Druck gesetzt und mich angebettelt, bis ich schließlich nachgegeben und Ja gesagt habe. Und nachdem ich dieses kleine Wort monatelang gemieden und vielmehr ständig Nein, Nein, Nein gesagt hatte, hat es mich, nachdem es einmal ausgesprochen war, … befreit.«
»Wovon mussten Sie sich denn befreien?«
»Ich nehme an, Sie kennen die Enttäuschungen des Lebens«, sagte sie. »Zum Beispiel, als Ihre Frau Sie verlassen hat. Wie alt war sie da übrigens?«
»32«, sagte er, ohne sich weiter gegen ihre Abschweifungen zu wehren.
»Und Sie?«
»Damals 44.«
Sie setzte sich auf den Ledersessel, schlug die Beine übereinander und drehte sich mit dem Stuhl von einer Seite zur anderen.
»Wie Sie sich vermutlich bereits gedacht haben, stamme ich nicht aus Sevilla«, sagte sie. »Ich lebe seit mehr als fünfzehn Jahren hier, aber ich bin keine von ihnen. Ich bin Madrilenin. Genau genommen stamme ich aus einem pueblo in der Estremadura, direkt südlich von Plasencia. Meine Eltern sind dort weggegangen, als ich zwei war. Ich bin in Madrid aufgewachsen. 1984 habe ich in einer Kunstgalerie gearbeitet und mich in einen der Kunden verliebt, den Sohn eines Fürsten. Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen … bis auf die Tatsache, dass ich schwanger wurde. Er hat mir erklärt, dass wir nicht heiraten könnten, und mir eine Abtreibung in London bezahlt. Wir haben uns am Flughafen Barajas getrennt, und seither habe ich ihn nur noch auf Fotos in der Hola! gesehen. 1985 bin ich nach Sevilla gezogen. Ich war schon im Urlaub hier gewesen und mochte die Heiterkeit, die alegría der Stadt. Nach vier
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