Der Blinde von Sevilla
ich eine Chance haben will, ein Motiv zu entdecken. Die meisten Menschen werden von Menschen umgebracht, die sie kennen …«
»Oder zu kennen glauben.«
»Genau.«
»Der Mörder kannte uns, nicht wahr? Die glückliche Familie Jiménez.«
»Er wusste zumindest über Sie Bescheid.«
Wie aus dem Nichts verschwand ihr scheinbar gleichgültiger Gesichtsausdruck, und sie fing an zu weinen, brach in abgerissenes Schluchzen aus und ließ ihren Oberkörper auf die Knie sinken. Falcón machte einen Schritt auf sie zu, wie immer in solchen Situationen unsicher, wie er sich verhalten sollte. Sie spürte es und hob die Hand. Also hielt er ihr eine Schachtel mit Papiertaschentüchern hin wie ein ungeschickter Kellner. Nach einer Weile ließ sie sich erschöpft und mit verweinten Augen in ihren Stuhl zurücksinken.
»Sie haben nach seinen persönlichen und geschäftlichen Beziehungen gefragt«, sagte sie leise und starrte aus dem Fenster.
»Er war 44, als seine erste Frau starb. Ich kann nicht glauben, dass er 20 Jahre lang ohne …«
»Natürlich gab es Frauen«, fiel sie ihm scharf ins Wort, jetzt wütend, vielleicht auf ihn, seine Neugier und seine Nutzlosigkeit. »Ich weiß nicht, wie viele es waren. Jede Menge, stelle ich mir vor, aber keine war von Dauer. Etliche von ihnen sind vorbeigekommen, um mich zu bestaunen … die Gewinnerin von Raúls Liebe. Die meisten hatten unwillkürlich die Nägel ausgefahren, bereit zu kratzen. Wissen Sie, wie ich mit ihnen umgegangen bin, Inspector Jefe? Ich habe ihnen die Befriedigung gelassen, mich für eine dumme kleine Maus zu halten. Ein bisschen cursi , niedlich, verstehen Sie? Es hat sie glücklich gemacht. Sie konnten sich überlegen fühlen. Danach haben sie mich in Ruhe gelassen. Einige von ihnen sind mittlerweile sogar Freundinnen … in dem Sinne, wie man das Wort in Sevilla gebraucht.«
»Und geschäftlich?«
»Die Restaurants hat er erst zu Beginn des Tourismus-Booms in den 80er Jahren eröffnet, als die Menschen zu entdecken begannen, dass Spanien nicht nur aus der Costa del Sol besteht. Anfangs war es nur ein Hobby. Er war sehr gesellig und dachte, dass er damit ebenso gut Geld verdienen könnte. Das erste war das Lokal in El Porvenir für seine reichen Freunde, dann folgte der Laden in Santa Cruz für die Touristen, genauso wie der große unweit der Plaza Alfalfa. Nach unserer Hochzeit kamen noch die beiden Lokale an der Küste hinzu, und im vergangenen Jahr haben wir das Restaurant in La Macarena eröffnet.«
»Woher kam eigentlich das ganze Geld?«
»Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Tanger noch ein Freihafen war, hat er einen Haufen Geld verdient. Damals gab es dort tausende von Firmen. Er hatte sogar seine eigene Bank und eine Baufirma. Damals konnte man dort schnell reich werden, wie Sie bestimmt wissen.«
»Ich war sehr jung. Ich habe keine Erinnerung an die Stadt«, sagte Falcón.
»In den 60er Jahren hat er hier in Sevilla eine Spedition gegründet. Ich glaube, eine Weile hat ihm sogar ein Stahlwerk gehört. Dann hat er sich auf Immobilien verlegt und ist eine Partnerschaft mit der Baufirma von Hermanos Lorenzo eingegangen, aus der er sich 1992 zurückgezogen hat.«
»War das eine friedliche Trennung?«
»Die Lorenzos sind Stammkunden unserer Restaurants. Wir sind jeden Sommer mit den Kindern in ihr Haus in Marabella gefahren, bis es Raúl zu langweilig wurde.«
»Seit dem Tod seiner ersten Frau und der Geisteskrankheit seiner Tochter gab es in Raúls Leben Ihrer Meinung nach keine größere Störung mehr?«
Eine Weile lang sagte sie gar nichts, sondern starrte nur mit wippendem Fuß aus dem Fenster.
»Ich fange an zu glauben, dass Raúl der archetypische Spanier und vielleicht auch der archetypische Sevillano war. Das Leben ist eine Fiesta!«, sprach sie schließlich weiter und wies mit den Händen auf das Feria-Gelände. »Er war so, wie Sie ihn auf den Fotos sehen. Immer lächelnd, fröhlich, charmant. Doch das war eine Tarnung, Inspector Jefe. Eine Tarnung für sein tiefes Unglück.«
»Vielleicht auch ein Gegenmittel«, sagte er, weil er selbst auch Spanier war und sich nicht für unglücklich hielt.
»Nein, kein Gegenmittel, denn seine alegría wirkte gegen gar nichts. Sie konnte seinen grundsätzlichen Zustand nie lindern, glauben Sie mir. Er war und blieb zutiefst unglücklich.«
»Und zu der Wurzel dieses Unglücks sind Sie nie vorgestoßen?«
»Er wollte es nicht, und ich wollte es auch nicht. Er fand rasch heraus, dass ich zwar optisch
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