Der Blinde von Sevilla
Jahren ohne viel alegría , wie ich gestehen muss, habe ich dann Raúl getroffen. Und da war ich bereit für ihn. Die Enttäuschung hatte mich vorbereitet.«
»Das klingt so, als wäre er verrückt nach Ihnen gewesen. Sie haben drei Kinder von ihm. Sie scheinen Spaß an Ihrer Arbeit zu haben. Ihre Entscheidung, ihn endlich zu erhören, muss die Dinge, wie Sie selbst sagten, vereinfacht haben.«
Sie ging zum Schreibtisch und durchsuchte die einzelnen Schubladen, bis sie einen Stapel alter, angegilbter Schwarzweißfotos fand, den sie eilig durchblätterte und nur ein einziges Bild herauszog, das sie an ihre Brust drückte.
»So war es auch«, sagte sie, »bis ich das hier gesehen habe …«
Sie gab ihm das Foto. Falcón blickte von dem Bild zu ihr und zurück.
»Ohne das Muttermal auf ihrer Oberlippe könnte man uns nicht unterscheiden, oder, Inspector Jefe?«, sagte sie. »Offenbar war sie auch ein bisschen kleiner als ich.«
»Wer ist das?«
»Raúls erste Frau«, sagte sie. »Verstehen Sie jetzt, Inspector Jefe? Einmal eine Consuelo, immer eine Consuelo.«
»Und was ist mit ihr geschehen?«
»Sie hat 1967 Selbstmord begangen. Da war sie 35 Jahre alt.«
»Irgendein bestimmter Grund?«
»Sie litt wohl unter Depressionen. Es war ihr dritter Versuch. Sie hat sich in den Guadalquivir gestürzt – nicht von einer Brücke, sondern einfach vom Ufer, was ich sehr seltsam fand«, sagte sie. »Sich nicht mit Schlaftabletten auszulöschen oder aufgeschlitzten Pulsadern grausam selbst zu bestrafen, nicht für alle sichtbar ins Vergessen zu tauchen, sondern sich wegzuwerfen.«
»Wie Müll.«
»Ja, das ist es vermutlich«, sagte sie. »Raúl hat mir übrigens nichts von all dem erzählt. Es war ein alter Freund aus der Zeit in Tanger.«
»Ich bin in Tanger aufgewachsen«, sagte Falcón, weil seine Gedanken diesem weiteren scheinbaren Zufall nicht widerstehen konnten. »Wie hieß der Freund Ihres Mannes?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern. Das ist zehn Jahre her, und seither hat es viel zu viele neue Namen gegeben – die Gastronomie eben …«
»Hatte Ihr Mann Kinder aus dieser Ehe?«
»Ja. Zwei. Ein Junge und ein Mädchen. Sie sind heute beide um die 50. Bezüglich der Tochter weiß ich etwas Interessantes: Etwa ein Jahr nach unserer Hochzeit kam ein Brief von einem Ort namens San Juan de Dios.«
»Das ist eine Nervenklinik in Ciempozuelos am Stadtrand von Madrid.«
»Wie jeder Madrilene weiß«, sagte sie. »Aber als ich Raúl danach fragte, erfand er eine alberne Geschichte, bis ich ihn direkt mit einer Rechnung derselben Institution konfrontierte und er zugeben musste, dass seine Tochter seit mehr als 30 Jahren dort Patientin ist.«
»Und der Sohn?«
»Ich habe ihn nie kennen gelernt. Raúl hat sich nicht auf das Thema eingelassen. Für ihn war es abgeschlossen. Ein Kapitel der Vergangenheit. Sie haben nie miteinander geredet. Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt, obwohl ich das jetzt vermutlich herausfinden muss.«
»Hat er auch einen Namen?«
»José Manuel Jiménez.«
»Und der Mädchenname der Mutter?«
»Bautista, ja, und sie hatte einen seltsamen Vornamen: Gumersinda.«
»Beide Kinder sind in Tanger geboren?«
»Das nehme ich an.«
»Ich werde es am Computer überprüfen.«
»Natürlich werden Sie das«, sagte sie.
»Hat Ihr Mann je über die Zeit in Tanger gesprochen?«
»Also, das war nun wirklich lange her. Wir reden jetzt von den 40er und frühen 50er Jahren. Er hat das Land kurz nach der Unabhängigkeit 1956 verlassen. Ich glaube nicht, dass er damals direkt hierhergekommen ist, aber sicher bin ich mir nicht. Ich weiß nur, dass er 1967, als seine Frau sich umgebracht hat, in einem Penthouse an der Plaza Cuba gewohnt hat. Damals war der Komplex ganz neu.«
»Und direkt am Ufer.«
»Ja, sie muss viel auf den Fluss geschaut haben«, sagte sie. »Ein Fluss bei Nacht kann durchaus hypnotisch sein. Schwarze, träge fließende Gewässer wirken dann nicht so gefährlich.«
»Was wissen Sie über die privaten und geschäftlichen Beziehungen Ihres Mannes?«
»Nennen Sie ihn Raúl, Inspector Jefe.«
»Na gut, was wissen Sie über Raúls private und geschäftliche Beziehungen zwischen, sagen wir, dem Tod seiner ersten Frau und der Feria 1989?«
»Das sind uralte Geschichten, Inspector Jefe. Halten Sie das für relevant?«
»Nein, ich versuche nur, den Hintergrund zu erhellen. Ich muss an einem Vormittag ein ganzes Leben kennen lernen. Ich muss ein Opfer in seinen Kontext stellen, wenn
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