Der Blinde von Sevilla
aufging.
»Was?«, fragte sie.
»Erzählen Sie mir einfach, was Sie von Ramón Salgado wissen«, sagte Falcón. »In meinem Leben gibt es ihn schon, solange ich mich erinnern kann. Ich kam sogar in dem La-Familia-Salgado -Film des Mörders vor. Aber erst jetzt wird mir klar, dass ich praktisch nichts über ihn wusste, von der uninteressanten Oberfläche seiner Existenz einmal abgesehen.«
»Ich kann nicht glauben, dass er mir nicht erzählt hat, dass er verheiratet war«, sagte sie. »Wir haben über alles geredet.«
»Vielleicht nicht wirklich alles«, sagte Falcón.
»Nun, er hat mir zum Beispiel erzählt, dass er einen Mann getötet hat.«
»Ramón Salgado soll jemanden ermordet haben?«, fragte Falcón.
»Er hat gesagt, es wäre ein Unfall gewesen … ein schrecklicher Unfall, doch er hätte jemanden getötet, und es würde ihn schwer belasten.«
»Warum sollte er Ihnen so etwas erzählen?«
»Weil ich ihm gerade alles über mich erzählt hatte. Nach meiner zweiten Abtreibung und dem Ende meiner Beziehung mit dem Herzog war ich betrunken und depressiv. Ich habe ihm von der anderen Abtreibung erzählt und wie ich das Geld dafür verdient habe … es wurde ein sehr persönliches Gespräch, wenn Sie verstehen.«
»Das sind große Geheimnisse, um sie miteinander zu teilen.«
»Wir waren zwei sehr einsame und enttäuschte Menschen und haben uns beim Brandy in einem Café an der Gran Via gegenseitig das Herz ausgeschüttet.«
»Hat er gesagt, wann er diesen Mann getötet hat?«
»Anfang der 60er in Tanger. Er hat in einem betrunkenen Streit jemanden zur Seite gestoßen. Der Mann ist gestürzt, ist an der falschen Stelle mit dem Kopf aufgeschlagen und gestorben. Das Ganze wurde vertuscht. Er hat Geld bezahlt und das Land verlassen.«
»Und Sie glauben nicht, dass er gelogen hat?«
»Warum sollte man etwas derart Schreckliches gestehen, wenn es gar nicht wahr ist?«
»Nun, es verleiht Ramón eine geheimnisvolle Aura … etwas, was seiner Persönlichkeit komplett abging.«
»Aber Sie haben nicht gehört, wie er es erzählt hat. Sie haben nicht gesehen, was es ihn gekostet hat.«
»Schon gut«, sagte Falcón. »Das stimmt. Aber das war vor 40 Jahren …«
»So weit sind Sie bei der Ermittlung von Raúls Ermordung doch auch zurückgegangen«, erwiderte sie. »Sie haben gesagt, der Hintergrund sei wichtig. Hier haben Sie noch mehr Hintergrund.«
»Das Problem ist nur, dass meine Vorgesetzten und ich jetzt ein wenig mehr Vordergrund brauchen«, sagte Falcón. »Ich kann nicht mal beweisen, dass Ihr Mann und Ramón sich in Tanger kannten. Es besteht nicht die geringste Verbindung.«
»Raúl hat Ramón Ihrem Vater vorgestellt. Er hat ihm ein Empfehlungsschreiben mit nach Tanger gegeben.«
»Was ist zwischen Raúl und meinem Vater vorgefallen?«, fragte Falcón, kurzzeitig fasziniert von der Abschweifung.
»Soweit ich weiß, haben sie sich nach ihrer Ankunit in Sevilla nie wieder getroffen.«
»Ich weiß es nicht. Er hat nie darüber gesprochen.«
»Nun gut«, sagte Falcón, um erneut zur Sache zu kommen. »Erzählen Sie mir von der Beziehung zwischen Ramón und Ihrem Mann in der Gegenwart.«
»Welche Beziehung meinen Sie?«
»Ramón hat Sie Raúl vorgestellt, oder?«
»Vor zwölf Jahren ist für Sie Gegenwart?«, sagte sie. »Wann fängt denn die Geschichte an?«
»Was ist mit der Expo ’92? Die Namen, die ich Ihnen genannt habe, waren verbunden durch …«
»Das liegt nur noch neun Jahre zurück. Sie werden regelrecht modern, Inspector Jefe.«
»Was glauben Sie, wie lange Erinnerungen gegenwärtig bleiben, wenn man als Kind missbraucht wird?«
Es folgte ein so tiefes und andauerndes Schweigen, dass Falcón sich fragte, ob sie nicht einfach aufgelegt hatte.
»Welche Namen sind verbunden, und was haben sie mit dem Missbrauch von Kindern zu tun?«, fragte sie schließlich hörbar wütend.
»Das ist Bestandteil einer polizeilichen Ermittlung und muss deshalb geheim bleiben«, sagte er. »Aber einen Namen kennen Sie ja … Eduardo Carvajal.«
»Wenn Sie damit andeuten wollen, dass entweder mein Mann oder Ramón etwas mit einem Pädophilen-Ring zu tun hatten, werden Sie sich gegenüber mir und meinen Anwälten rechtfertigen müssen.«
»Lesen Sie weiter Zeitung«, sagte er, und sie knallte den Hörer auf.
Sekunden später klingelte sein Handy. Seit er von der ATM zurückgekommen war, hatte er sich nicht vom Telefon wegbewegt. Die ganze Welt schien sich um ihn zu reißen.
»Wo sind Sie?«,
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