Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
gefolgt von einem jungen Marokkaner, wütend in mein Atelier. Seit meiner schändlichen Hochzeitsnacht habe ich ihn nicht mehr gesehen (und das ist kein Zufall). Er will wissen, warum ich ihm nicht von meinem neuen Atelier erzählt habe. Der Junge kocht Tee. Wir sitzen und rauchen. C. versinkt in Benommenheit und schläft schließlich ein. Der Junge und ich wechseln Blicke und machen es uns dann unter dem Moskitonetz bequem. Als ich aufwache, ist C. noch wütender, während der Junge sich das Gesicht hält, wohin C. ihn geschlagen hat. Offenbar ist C. ziemlich vernarrt in den Jungen und empört darüber, dass er sich wie eine billige Hure benommen hat. Er lässt sich nicht besänftigen und verlässt mein Atelier, gefolgt von dem Jungen, der sich, sein weißes Gewand blutbespritzt, mit beiden Händen die Nase hält. Die Tür fällt zu. Ich betrachte meine weiße Leinwand und entscheide, dass Rot die Farbe ist.

    15. Februar 1951, Tanger
    Ich bin Vater einer rosafarbenen, ruhigen Tochter geworden, was nach Paco, dessen erste Schreie nur der Beginn einer langen Kampagne unerbittlicher Forderungen waren, eine Erleichterung ist. Manuela (der Name von P.s Mutter) schläft ständig und wacht nur auf, um kleine Blasen zu machen und ihre Lippen zum Saugen zu spitzen.

    8. Juni 1951, Tanger
    Ich treffe C. im La Mar Chica, das zu einem nächtlichen Stammlokal der Reichen und Schönen geworden ist. Sie drängen Carmella Geld auf, die sie dafür mit ihren Grauen erregenden Achselhöhlen fasziniert, ohne auf ihren Partner Luis zu achten, der ein sehr viel besserer Tänzer ist. Ich habe C. seit dem Zwischenfall mit dem Jungen in meinem Atelier nicht mehr gesehen. Für ihn ist es in letzter Zeit nicht gut gelaufen. Er ist betrunken und hässlich, er wirkt ausgezehrt und leer gesaugt. Die Anarchie der Verworfenheit hat zurückgebissen und große Brocken aus ihm herausgerissen. Für die Umstehenden hält er mir eine große Tirade auf Englisch. »Sehet – Francisco Falcón, Künstler, Architekt, contrabandista und Legionär. Der Meister der weiblichen Form. Wussten Sie, dass er Barbara Hutton einmal ein Bild für 1000 Dollar verkauft hat? Nein, kein Bild, eine Zeichnung. Eine flüchtige Kohleskizze auf Papier, und 1000 Geldscheine regneten auf ihn nieder.« Ich lehne mich zurück. Noch ist es harmlos, aber C. hat sein Publikum gefunden und fühlt sich angespornt. Er weiß, dass sie von der Sorte sind, die nicht Luis, sondern Carmella wollen, und er bedient ihren Geschmack. »Aber lassen Sie mich von Francisco Falcón und seinem tiefen Verständnis der weiblichen Form erzählen. Er ist ein Schwindler. Francisco Falcón weiß nichts über die weibliche Form, er ist allerdings ein Experte für Jungen – oh ja, lasst mich von all den Pos und Schwänzen berichten, die er genossen hat. Sie sind seine eigentliche Spezialität, und ich muss es wissen, weil er mich als seinen Zuhälter benutzt hat …« An dieser Stelle kommt Luis rüber und sagt ihm, er soll die Klappe halten. Ich koche innerlich vor Wut, gebe mich jedoch ganz kühl. C. will den Mund nicht halten und hebt zu einer letzten bitteren Anklage an, die mit meiner Hochzeitsnacht endet. Luis packt ihn und zerrt ihn nach draußen. Die beiden kommen nicht wieder. Ich gehe, gefolgt von einem Publikum, das Blut geleckt hat und auf eine Schlägerei aus ist. Doch Luis hat C. weggeschafft, und obwohl ich C. in der Luft zerfetzen könnte, gehe ich ruhig nach Hause.

    12. Juni 1951, Tanger
    Man hat C. tot in seinem Zimmer in der Medina gefunden, den Kopf zu einem unkenntlichen Brei zerschlagen. Der Junge, dem er in meinem Atelier die Nase gebrochen hat, wurde mit blutverschmierten Kleidern neben der Leiche gefunden. Er ist des Mordes angeklagt worden. Die ist das definitive Ende eines sinnlichen Menschen – der Kuss befriedigt ihn nicht mehr, die Berührung ist zu sanft, sodass irgendwann nur noch ein Klaps und dann Schläge helfen, bis ihn ein Knüppel trifft.

    18. Juni 1951, Tanger
    Ich habe beschlossen, die Sommermonate in meinem Atelier zu verbringen. Das Haus ist in ständigem Aufruhr und stinkt nach caca und Milch. Die Luft schwirrt von idiotischem Geschwätz. Da liege ich lieber schläfrig unter meinem Netz, während die Welt draußen verschwommen bleibt und nur das treue Gebet des Muezzin meinen Tag strukturiert. Sein Ruf scheint tief aus dem Bauch zu kommen und in seiner Brust widerzuhallen, bevor er ihn ausstößt – klagender als Luis’ Flamencos. Der Klang erhebt sich jedes

Weitere Kostenlose Bücher