Der Blinde von Sevilla
Die Komplikationen waren so schwerwiegend, dass die Ärzte R. gefragt haben, wen sie retten sollen, Mutter oder Kind. Er hat sich für G. entschieden, weil er nicht ohne sie leben kann. Doch nach dieser Entscheidung erholte sich G. und das Kind kam anscheinend unversehrt zur Welt. Diese Beinahe-Tragödie in unserer Nähe schweißt P. und mich wieder enger zusammen, wir sind wie früher und entdecken auch ein wenig von unserer Leidenschaft wieder. Nachmittags kommt sie ins Atelier, und ich arbeite und lege mich zu ihr. Die Gemälde sind besser als vorher, aber ich habe diese verlorene Schönheit immer noch nicht wieder erreicht.
18. November 1952, Tanger
Bei einem Empfang im Hotel El Minzah treffe ich Mercedes, die spanische Frau eines amerikanischen Bankiers. Ihr Mann hatte meine Arbeiten in C.B.s New Yorker Galerie gekauft, deshalb kennt sie mich wie einen alten Freund. Nach den Jahren in Amerika wirkt sie sehr modern, nicht wie die typische Spanierin, die über die Straße von Gibraltar herkommt. Ich lade sie in mein Atelier ein, und sie kommt am nächsten Tag in einem Cadillac mit Chauffeur, den sie wieder wegschickt. Ich mache Tee. Sie hat eine jungenhafte Figur, schmale Hüften, kleine Brüste und schlanke, muskulöse Beine. Ich zeige ihr einige meiner abstrakten Landschaften, die ich in letzter Zeit gemalt habe, und sie bemerkt dazu, dass sie die kubistischen Elemente Braques in einem lodernden Farbband schweben lassen, wie sie es in New York in Arbeiten von Rothko gesehen hat. Ihre Intelligenz spricht mich an. Wir fühlen uns zueinander hingezogen, und es dauert nicht lange, bis ich herausfinde, wozu ihr straffer kleiner Körper oder genauer ihre Fantasie fähig ist. Sie hat etwas Verworfenes. Wenn sie zum Höhepunkt kommt, tut sie es mit einer Raserei, in der nichts anderes zählt (ganz bestimmt nicht ich, gegen den sie ihr Becken presst), und sie heult dabei wie eine Wölfin. Wir landen krachend auf dem Boden, wo sie mit verschwommenem Blick, geröteten Wangen und weißen Lippen liegen bleibt, während das Blut der Sinnlichkeit durch ihre geschwollene Halsschlagader pulsiert. Diese Mischung aus Kultiviertheit und animalischer Lust ist anregend. Doch es liegt auch eine Gefahr darin. M. scheint in der Lage, mich in Bereiche zu führen, in denen es keine Grenzen gibt. Mir bleibt die Ironie nicht verborgen, die darin liegt, dass wir in Tanger leben, Gefangene der Internationalen Zone Marokkos, im Cockpit Afrikas, wo eine neue Gesellschaft erschaffen wird. Eine Gesellschaft, in der es keine Regeln gibt. Das herrschende Komitee natürlicherweise argwöhnischer europäischer Länder hat ein permissives Chaos geschaffen, aus dem eine neue Stufe der Menschheit hervorgeht. Eine, die sich nicht an die üblichen Gesetze einer Gemeinschaft hält, sondern nur darauf aus ist, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die unbesteuerten und ungeregelten Geschäfte in der Internationalen Zone werden in einer Gesellschaft getätigt, die vor jeder Moral zurückschreckt. Wir sind der Mikrokosmos der Zukunft der modernen Welt, eine Kultur in der Petrischale menschlichen Fortschritts. Niemand wird sagen: »Oh, Tanger, das waren Zeiten«, weil wir alle in unserem eigenen Tanger leben werden. Dafür haben wir die letzten vier Jahrzehnte überall auf der Welt wie die Hunde gekämpft.
25. März 1953, Tanger
Nach dem Verkauf all unserer Schmuggelboote hat R. eine Yacht erworben, ein Spielzeug, auf dem er herumgondeln und erfolgreich aussehen kann. Mit dem Geld aus unserer Partnerschaft und den Verkäufen, die ich durch M.s Kontakte in New York erziele, könnte ich mir wahrscheinlich selbst eine leisten, aber es würde mir keine Befriedigung verschaffen. Ich bin fast 40 Jahre alt und äußerlich erfolgreich, aber mir ist mein ureigenes Problem bewusst. Nichts von meinem Reichtum ist das Ergebnis meines eigenen Tuns. R. hat mein Leben nicht weniger streng strukturiert als die Legion. P. war meine Muse, ohne sie hätte ich die Kohlezeichnung nie machen können. M. hat mir einen Ruf in Amerika verschafft, durch den ich in New York gut verkaufe. Und ich selbst – bin eine leere Muschel. Beim Anklopfen wird nur meine Leere widerhallen.
2. April 1953, Tanger
Paul Bowles’ Erfolg hat eine Gruppe von amerikanischen Schriftstellern und Künstlern in unser kleines Utopia gelockt. Ich treffe einen Mann namens William Burroughs, der, so kommt es mir vor, bisher nichts Bemerkenswertes geleistet hat, außer einen gewaltigen Ruf vor sich her
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