Der Blinde von Sevilla
zu tragen. Er hat bei einem Wilhelm-Tell-Spiel in Mexiko seine Frau erschossen, weil seine Kugel nicht das Glas auf ihrem Kopf, sondern ihre Stirn traf. Der Amerikaner, der mir die Geschichte erzählt, tut es mit einem Ton entsetzter Belustigung, als hätte er das Ganze kürzlich im Kino gesehen. Ich lasse meinen Blick über den schmutzigen Boden des La Mar Chica zu W.B.s Platz schweifen und bereite mich darauf vor, mich von einem Gattinnenmörder beeindrucken zu lassen. Stattdessen sehe ich einen Bankangestellten, wie sie zu hunderten in der Stadt beschäftigt sind, nur dass dieser einen Schädel wie die Gestalt in Edward Munchs Der Schrei hat. Als wir uns kennen lernen, sage ich ihm das, und er antwortet: »Wie dieser Mistkerl wusste, was kommen würde, werden wir nie erfahren. Scheiße. Und ich sag Ihnen was, so seh ich den Himmel manchmal … genau so. Wissen Sie … wie Blut. Wie beschissenes Blut.« Seine Anziehungskraft besteht in seiner Fähigkeit zu augenblicklicher Wildheit, die er gegenüber Menschen, die ihm unsympathisch sind, unvermittelt herauslassen kann, aber ich glaube, seine eigentliche Schärfe behält er sich für sich selbst vor. Er kommt mir vor wie ein heulendes Tier, und ich muss an den verrückten Jungen denken, den R. vor Jahren mit einem Halsring an eine Mauer gekettet in dem Dorf in der Sierra gesehen hat. Dadurch verstehe ich besser, warum ich zu Stift und Papier greife.
28. Juni 1953
Ich habe drei Leben. Mit P. und den Kindern bin ich anständig nach den üblichen Parametern kleiner Geister. Ich bin sanft und beinahe fröhlich, während in meiner Brust ein bebendes Gähnen klafft. Ich sehe P. an, die perfekte Mutter, und frage mich, wie sie je meine Muse gewesen sein kann. Dann habe ich mein Leben im Atelier. Die Arbeit kommt voran. Die Landschaften von Tanger haben sich weiterentwickelt in etwas anderes. Gewaltige rote Himmel bluten auf einen massiven schwarzen Kontinent, dazwischen der verschmierte Streifen einer gegenwärtigen Zivilisation. Die Arbeit wird unterbrochen von einem Strom von Jungen, die vorbeikommen, um sich ein paar Peseten zu verdienen. Mein drittes Leben ist das mit M. als meiner Gesellschaftsdame und perversen Geliebten.
23. Oktober 1953, Tanger
C.B. lädt mich und P. zu einem Abend mit B.H. ein. Ich bin nicht glücklich darüber, dass meine verschiedenen Leben ineinander fließen. Wir gehen zum Sidi-Hosni-Palast und warten wie üblich in fabelhaftem Reichtum auf unsere Gastgeberin. P. langweilt sich, C.B. nimmt sich ihrer an und, weil er der Mann ist, der er ist, schafft er es sogar, sie mit seinen paar Brocken Spanisch zu umgarnen. B.H. kommt, als ich gerade vorschlagen will zu gehen. Sie arbeitet sich bis zu uns vor und hat beim Anblick von P. eine Idee. Sie führt uns in den von dem riesigen Nubier bewachten Raum, und erst als wir ihre Privatgalerie betreten, fällt mir ein, dass ich P. nie von dem Verkauf erzählt habe. B.H. führt sie direkt zu dem Werk, das an seinem stolzen Ehrenplatz neben Picasso hängt. P. blinzelt, als müsse sie mit ansehen, wie eines ihrer Kinder verletzt wird. An dem Blick, den sie mir aus ihren grünen Augen zuwirft, erkenne ich, dass sie den Verkauf des Bildes für einen Vertrauensbruch hält. B.H. die bereits getrunken hat, bekommt ihren Schmerz gar nicht mit, sodass es am Ende C.B. ist, der uns weiter führt. Auf dem Heimweg sagt P. kein Wort, während sie mit auf den Pflastersteinen klappernden Absätzen durch die Kasba strebt. Ich stolpere ihr nach und lüge ihren Rücken an wie ein Bettler, dem man das Kleingeld verwehrt hat.
19. Februar 1954, Tanger
R. ist nach Rabat und Fès gefahren, um mit den französischen und marokkanischen Verwaltungsbeamten zu reden. Er hat mich gebeten mitzukommen, doch ich arbeite an einigen abstrakten Großformaten, mit denen es mir hoffentlich gelingt, von der »B-Liste« anerkannter Künstler, wie M. es nennt, aufzusteigen. Sie möchte, dass mein Name in einem Atemzug mit Malern jenseits des Atlantiks genannt wird, Künstlern wie Jackson Pollock, Mark Rothko und William de Kooning. M. hält meine Landschaften für so stark wie die Rothkos. Ich betrachte seine Bilder und sehe, dass er sein Sujet aus einem anderen Blickwinkel angeht. Er zielt hoch und sucht ein spirituelles Element, während ich ganz auf Dunkelheit und Dekadenz ausgerichtet bin.
3. März 1954, Tanger
R. ist von seiner Reise zurück, ermutigt durch die Verhandlungen mit den Beamten. Er alarmiert mich mit der Mitteilung,
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