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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Mittelamerika damit begonnen hätte. Das Schicksal der durch die Bürgerkriege in diesen Ländern verwaisten Kinder hat ihn sehr bewegt.«
    »Vielleicht ist er selbst während des Bürgerkriegs Waise geworden.«
    Sie zuckte die Achseln. Falcóns Stift schwebte über seinem Notizblock mit dem unterstrichenen Wort putas.
    »Und die Prostituierten?«, fragte er, das Wort beinahe aggressiv betonend. »Sie haben die Passage des Videos nicht gesehen, in der Ihr Mann beim Besuch der Alameda gefilmt wurde. Er hätte sich etwas Besseres in einer weniger gefährlichen Umgebung leisten können. Warum glauben Sie …?«
    »Fragen Sie mich nicht, warum Männer zu Prostituierten gehen«, sagte sie und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu, »… sein großes Unglück vermutlich.«
    »Und diesbezüglich können Sie uns in keiner Weise weiterhelfen.«
    »Die Menschen reden über diese Dinge nur, wenn sie es wollen und wenn sie wissen, wie. Etwas, das meinen Mann derart bekümmern konnte, war vermutlich so tief in seinem Innern vergraben, dass er gar nicht mehr wusste, dass es noch da war. Es war einfach sein Zustand. Wie soll man anfangen, über so etwas zu reden?«
    Consuelo Jiménez’ Worte versetzten Falcón in eine veritable Trance. Seine Gedanken wanderten zurück zu den ersten Stunden der Ermittlung, bis er wieder auf jene Angst stieß, die aufwallende Panik. Er sah sich den Flur hinuntergehen, zweimal, einmal mit seinen eigenen Schritten, dann mit denen des Mörders. Direkt auf die leere Wand mit dem verwaisten Haken zu. Dann das Gesicht, die Augen in dem Gesicht und das unbarmherzige Grauen, das sie gesehen hatten.

    »Don Javier«, riss sie ihn aus seinen Gedanken. Zum ersten Mal hatte sie ihn nicht mit seinem Dienstrang angesprochen.
    »Bitte, verzeihen Sie«, sagte er. »Ich war in Gedanken verloren. War ganz woanders.«
    »Es sah jedenfalls nicht so aus, als ob ich dort auch gern wäre«, erwiderte sie.
    »Ich bin im Kopf bloß ein paar Dinge durchgegangen.«
    »Dann müssen Sie schreckliche Dinge gesehen haben. Sie sagten selbst, dass der Mord an Raúl der ungewöhnlichste Ihrer bisherigen Karriere ist.«
    »Ja, das habe ich gesagt, aber das hatte nichts damit zu tun«, sagte er und ertappte sich dabei, kurz vor einem Geständnis zu stehen, eine Lage, so dachte er, in die ein Inspector Jefe del Grupo de Homicidios nie geraten sollte.

4
    Donnerstag, 12. April 2001, Edificio Presidente,
    Los Remedios, Sevilla

    Er bot ihr einen Wagen an, doch sie lehnte ab. Also fragte er sie nach deren Personalien, nur um den Druck aufrechtzuerhalten, und erinnerte sie daran, dass er sie später abholen würde, damit sie im Instituto Anatómico Forense die Leiche identifizierte. Nachdem der schockierende Anblick ihres toten Mannes ihr jeden Rest von Selbstgefälligkeit ausgetrieben hatte, wollte er sie dann erneut befragen. Schließlich forderte er sie auf, noch einmal über alle ungewöhnlichen Vorfälle in Raúls Geschäfts- und Privatleben nachzudenken, und ließ sie im Restaurant anrufen, um sich nach den Namen und Adressen der drei Angestellten zu erkundigen, die entlassen worden waren, weil sie ihrem Mann trotz ausdrücklichen Verbots etwas zu essen gegeben hatten. Er wusste, dass diese Spuren nirgendwohin führen würden, doch er wollte ihr Furcht vor seiner Gründlichkeit einflößen. An der Wohnungstür gaben sie sich die Hand; seine war feucht, ihre trocken und kühl.
    Ramírez folgte ihm aus dem Flur zurück in Raúl Jiménez’ Arbeitszimmer.
    »Hat sie es getan?«, fragte er und ließ sich in den Stuhl mit der hohen Rückenlehne fallen. »Oder hat sie jemanden beauftragt, Inspector Jefe?«
    Falcón drehte den Stift zwischen seinen Fingern.
    »Irgendwelche Neuigkeiten von Pérez aus dem Krankenhaus?«, fragte er.
    »Das Hausmädchen ist immer noch ohne Bewusstsein.«
    »Und die Bänder der Überwachungskameras?«
    »Vier Personen, die der Pförtner nicht identifizieren konnte. Zwei Männer, zwei Frauen. Eine der Frauen ist die Nutte, würde ich sagen, obwohl sie sehr jung aussieht. Fernández hat die Bänder mit zur Wache genommen, um ein paar Digi-Prints zu machen, die wir in der Gegend herumzeigen können.«
    »Was ist mit Personen, die das Gebäude möglicherweise durch andere Ausgänge verlassen haben? Durch die Tiefgarage zum Beispiel.«
    »Die anderen Kameras funktionieren alle nicht. Der Pförtner hat heute Morgen einen Techniker angerufen, aber der ist bis jetzt nicht aufgekreuzt. Semana Santa, Inspector Jefe«,

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