Der Blinde von Sevilla
dass er sich auf ein Geschäft mit Marokkanern eingelassen hat. Ich erkläre ihm, dass er das heimliche Wesen der Marokkaner nicht kennt – ihre Fähigkeit, noch den gerissensten Geschäftemacher zu übervorteilen. Er tut es mit einer Geste ab und sagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich werde nichts damit zu tun haben.
18. Juni 1954, Tanger
Eines Nachmittags komme ich in die Medina und stelle überrascht fest, dass P. nicht da ist. Die Kinder spielen im Patio. Paco ist ein Torero, seine kleine Schwester der Stier. Er vollführt mit seinem Hemd beachtliche Wendungen und Drehungen, während sie ziellos hinterhertaumelt und begeistert quiekt, wenn sie auf der anderen Seite des Tuches gelandet ist. Wie sie auf dieses Spiel kommen, weiß ich nicht, weil Paco noch nie einen Stierkampf gesehen hat. Ich bin so weit entfernt von ihrem Leben. Aber wo ist P.? Keiner weiß es. Ich spiele mit den Kindern und mache für Paco einen toro , der ein bisschen gefährlicher ist. Ich bin überrascht, wie gewandt er mit seinem Hemd hantiert, und verstehe etwas von Manuelas Entzücken. Trotzdem wird mir rasch langweilig, und ich kehre in mein Atelier zurück.
20. Dezember 1954, Tanger
Wir haben Glück gehabt, dem schlimmsten Debakel zu entgehen. Die Immobilienpreise sind in den Keller gestürzt. Die allgemeine Hoffnung, Tanger würde das Monaco Afrikas werden, ist verpufft. R. sieht sich veranlasst, sein ganzes Kapital abzuziehen, und wir fliegen in die Schweiz, wo er auf meinen Namen ein Konto eröffnet und die unglaubliche Summe von 85000 Dollar einzahlt, den größten Teil meiner Gewinne aus unserer zehnjährigen Partnerschaft. Er lässt keinerlei Proteste meinerseits zu, und wir feiern das Ganze mit einem Essen. Dies ist das Ende einer Ära. R. wird von nun an eigene geschäftliche Wege gehen. Nach dem Essen umarmen wir uns.
17. Mai 1955, Tanger
P. hat mich zum ersten Mal seit Urzeiten in meinem Atelier besucht. Sie war drei Tage hintereinander hier, und wir haben uns jeden Nachmittag geliebt. M. ist mit ihrem Mann in Paris, sodass nur hin und wieder ein Junge klopft, den man mit Handgeld wegschicken kann. Ihre plötzliche Leidenschaft verwundert mich, bis mir klar wird, dass ich während M.s Abwesenheit häufiger zu Hause war und mich bei der Familie rehabilitiert habe.
Als sie geht, liege ich unter dem hochgebundenen Moskitonetz, und der durchsichtige, fließende Stoff lässt mich an Geburt und Fruchtwasser denken, sodass ich mich frage, ob ich mich habe verführen lassen, ein weiteres Kind zu zeugen.
11. Juli 1955, Tanger
Wie die Dinge zusammen kommen … Heute werde ich 40. P. sagt mir, dass ich noch einmal Vater werde. R. hat weitere 25000 Dollar auf mein Konto eingezahlt, und unsere Partnerschaft ist nun offiziell beendet. M.s Mann hat um die Scheidung gebeten und will dafür eine beträchtliche Summe zahlen (der Grund ist ein 21-jähriges Mädchen aus Texas). Ich bin vom Abstrakten wieder mehr zum Gegenständlichen gekommen, möglicherweise inspiriert von de Kooning, der sich von den dichten und chaotischen Strukturen seiner Excavation gelöst hat und mehr in Richtung seiner Frauenbilder gegangen ist. Oder auch nicht. Vielleicht jage ich bloß C.B.s und meinem Traum hinterher. Ich habe gearbeitet, bis das Licht zu schwach wurde. Jetzt werde ich mit meiner Familie essen gehen. Ich empfinde nur totale Verzweiflung.
1. November 1955, Tanger
Im vergangenen Monat wurde Sultan Mohammed V. aus seinem Exil in Madagaskar zurückgerufen, wohin ihn die Franzosen vor drei Jahren geschickt haben. Irgendwann in diesem Monat soll er eintreffen. Das ist der Anfang vom Ende, obwohl man es nicht ahnen würde, wenn man die ausländische Gemeinde beobachtet. Sie fiedeln, während Rom in Flammen steht, was kümmert es sie? Ich habe brennende Sehnsucht nach M. die schon seit Monaten fort ist, um ihre Scheidung zu regeln. Wir alle werden von den Flammen verzehrt werden.
12. Januar 1956, Tanger
Ein weiterer Sohn. Ich will ihn Javier nennen, weil es ein Name ist, den ich immer gemocht habe und der nichts mit der Familie zu tun hat. Zum ersten Mal blicke ich auf eines meiner Kinder hinab und empfinde nicht so sehr eine Woge väterlicher Liebe als vielmehr ein Gefühl wilder Hoffnung. Dieses Kind mit seinen geballten Fäusten und den zusammengekniffenen Augen lässt mich aus irgendeinem Grund denken, dass große Dinge möglich sind. Er ist das helle Licht in meinem 41. Lebensjahr.
28. Juni 1956, Tanger
Ich liege auf dem Rücken
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