Der Blinde von Sevilla
Räume des Psychologen befanden sich in einem abgelegenen Teil der Jefatura im zweiten Stock. Falcón wurde sofort hereingerufen. Er gab dem Psychologen die Hand, und sie setzten sich. Der Arzt war Anfang 50 und trug einen kohlegrauen Anzug mit Weste. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag ein einzelnes Blatt Papier.
»Ich glaube nicht, dass ich schon einmal bei einem Polizeipsychologen war«, sagte Falcón.
»Was ist mit den beiden Malen in Barcelona?«, fragte der Arzt.
Panik schoss durch Falcóns Körper. Er war direkt in eine Erinnerungslücke gerannt. Zwei Mal in Barcelona?
»Sie haben nach einem Bombenanschlag ermittelt, bei dem die zwölfjährige Tochter eines Politikers getötet wurde; und dann war da die Schießerei in der Kanzlei eines Anwalts, bei der eine Mutter von drei Kindern getötet wurde.«
»Tut mir Leid, natürlich. Ich meinte, seit ich in Sevilla bin.«
Der Arzt unterzog ihn einer körperlichen Untersuchung, wog ihn und maß seinen Blutdruck. Dann setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
»Warum bin ich hier?«, fragte Falcón.
»Sie arbeiten gerade an einem sehr schweren Fall, drei Morde mit zum Teil grausamen Tatumständen.«
»Ich hab schon Schlimmeres gesehen«, log Falcón.
»In der Jefatura halten es alle für einen der schlimmsten Fälle, die wir je hatten.«
»In Sevilla«, sagte Falcón. »Ich war in Madrid, bevor ich hierher gekommen bin.«
»Sie wiegen fünf Kilo unter Ihrem Normalgewicht.«
»Fälle wie dieser kosten eine Menge Energie.«
»Bei den beiden Fällen, in denen Sie in Barcelona ermittelt haben, haben Sie 79 Kilo gewogen. Jetzt wiegen Sie 74.«
»Ich habe nicht regelmäßig gegessen.«
»Seit der Trennung von Ihrer Frau, meinen Sie?«
Ein kleiner Abgrund tat sich auf, als Falcón erkannte, wie viele Faktoren möglicherweise in Betracht gezogen wurden.
»Meine Haushälterin kocht für mich. Ich habe bloß nicht die Zeit gefunden, es zu essen, das ist alles.«
»Ihr Blutdruck ist ziemlich hoch. In Ihrem Alter würde ich 120/70 schon für über dem Normalwert halten, aber Sie haben 140/85, was bereits grenzwertig ist. Ihre Augen wirken eingefallen. Schlafen Sie gut?«
»Ich schlafe sehr gut.«
»Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?«
»Nein«, antwortete er flüssig.
»Haben Sie irgendwelche körperlichen Beschwerden?«, fragte Rato. »Schweißausbrüche. Durchfall. Appetitlosigkeit?«
»Nein.«
»Und geistig?«
»Nein.«
»Keine beunruhigenden Gedanken, Erinnerungslücken, zwanghafte Neigungen … wie sich ständig die Hände zu waschen?«
»Nein.«
»Gliederschmerzen in Schultern oder Knien?«
»Nein.«
»Können Sie sich vorstellen, warum irgendjemand innerhalb oder außerhalb der Jefatura sich in jüngster Zeit Sorgen über Ihr Verhalten gemacht haben könnte?«
Eine weitere Panikattacke, und der Durchfall, den er gerade geleugnet hatte, wurde zur realen Möglichkeit.
»Nein, kann ich nicht«, sagte er.
»Stress wirkt sich unterschiedlich auf die Menschen aus, Inspector Jefe, aber grundsätzlich ist es immer das Gleiche. Milder Stress – Überarbeitung in Kombination mit privaten Problemen – kann zu körperlichen Reaktionen führen, die einen dazu bringen sollen, eine Pause zu machen. Knieschmerzen sind nichts Ungewöhnliches. Extremer Stress löst in der Regel das atavistische Verhaltensmuster ›Fliehen oder Kämpfen‹ aus – einen Adrenalinschub, der einen in die Lage versetzt, entweder zuzuschlagen oder wegzulaufen. Wir leben nicht mehr in der Wildnis, aber unser urbaner Dschungel kann dieselben Reaktionen auslösen. Der kombinierte Druck aus schwerer Arbeitsbelastung und privaten Einschnitten – der Tod eines Elternteils oder eine Scheidung – kann eine Art permanenten Adrenalinschub auslösen. Der Blutdruck steigt. Man nimmt ab, und das Hungergefühl wird unterdrückt. Die Denktätigkeit wird beschleunigt. Man findet keinen Schlaf mehr. Der Körper reagiert, als wäre der Verstand auf etwas gestoßen, wovor man Angst haben müsste. Man leidet unter Schweißausbrüchen, Angstattacken, die sich bis zur Panik steigern, gefolgt von Erinnerungslücken und zwanghaftem, zirkulärem Denken. Inspector Jefe, Sie weisen alle Symptome eines Mannes auf, der unter schwerem Stress leidet. Sagen Sie mir, wann Sie sich das letzte Mal einen Nachmittag frei genommen haben?«
»Ich nehme mir heute Nachmittag frei.«
»Und wann war das letzte Mal?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Seit Ihrer Ankunft in Sevilla vor fast drei Jahren haben
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