Der Blinde von Sevilla
atmen. Ich trete hinter ihn, drücke meine Hand auf seinen Mund und packe seine Nase. Die Brutalität meines ersten Schlages hat ihm alle Kraft geraubt. Erst als der Tod sich in sein Bewusstsein drängt, versucht er, sich mit neu erwachtem Überlebensinstinkt zu wehren, doch es ist längst zu spät. Ich halte ihn fest und lösche die letzte flackernde Lebensflamme in ihm aus. Dann lege ich ihn mit dem Gesicht auf den Boden. Ich nehme die vier Akte, löse sie von den Rahmen, auf die sie gespannt sind, rolle sie zusammen und stelle sie neben die Tür. Dann gieße ich einen Fünf-Liter-Kanister weißen Spiritus über den Boden und T.C.s reglosen Körper. Ich finde auch noch Terpentin und Alkohol. Schließlich lasse ich ein entflammtes Streichholz fallen und gehe zu Fuß zu meinem Atelier, wo ich die Leinwände über meinem Bett im Dach verstecke. Meine Arbeit ist getan, und ich schlafe ohne Probleme ein.
Javier trank den letzten Whisky aus seinem Glas. Während die Unfassbarkeit des Gelesenen sich langsam über die beschriebenen Seiten hinaus ausgedehnt hatte, um das ganze Zimmer mit seiner geschwürartigen Grausigkeit zu erfüllen, hatte er sich regelmäßig sein Glas nachgefüllt, bis er betrunken war. Sein vorheriges Triumphgefühl war verflogen. Die Fotokopien, die ihm aus der schwächer werdenden Hand geglitten waren, lagen verstreut um seine Füße. Sein Kopf sank auf seine Schulter, sein Hals knackte, sein Instinkt und seine Reflexe drängten ihn, den Schlaf und das, was er für ihn bereithalten könnte, zu meiden, doch er war zu keinerlei Widerstand mehr fähig; die Erschöpfung hatte gesiegt, sein Kopf und sein Körper waren restlos ausgepowert.
Er träumte, dass er schlief, aber nicht als Erwachsener, sondern als Kind. Sein Rücken war warm, und er las sicher unter dem Moskitonetz. Er befand sich in jenem Halbdämmerzustand, bei dem er wusste, dass die Hitze auf seinem Rücken die Sonne war, und durch seine halb geschlossenen Augen konnte er den flachen Krater sehen, den er in die weiß getünchte Wand vor seinem Gesicht gepult hatte. Er spürte das zappelnde Glück der Kindheit tief in seinem Bauch, als er seine Mutter seinen Namen rufen hörte:
»Javier, Javier! Despiértate ahora, Javier!«
Er wachte sofort auf, weil er wusste, dass sie im Zimmer sein würde, und er würde glücklich sein und geliebt.
Aber sie war nicht da. Was immer sonst dort war, schwankte einen Moment, bis er seinen Blick fixiert hatte. Er saß wieder in seinem Arbeitszimmer auf einem Stuhl, nur dass es nicht sein gewohnter Stuhl war. Es war einer der Stühle aus dem Esszimmer mit einer hohen Rückenlehne, und er konnte sich auch nicht vorbeugen oder aufstehen, weil irgendetwas in seinen Hals, seine Knöchel und Handgelenke schnitt. Seine Füße waren nackt und kalt auf dem Fliesenboden.
33
Montag, 30. April 2001, Falcóns Haus,
Calle Bailén, Sevilla
Der Schreibtisch vor ihm war leer. Alle Bilder waren von den Wänden genommen worden.
»Bist du wach, Javier?«, fragte eine Stimme hinter ihm.
»Ich bin wach.«
»Wenn du versuchst zu schreien, muss ich dich wieder mit deinen Socken knebeln, also sei bitte vernünftig.«
»Ich bin jetzt jenseits von Schreien«, sagte er.
»Wirklich?«, fragte die Stimme. »Wie ich sehe, hast du gelesen. Bist du fertig?«
»Ich bin fertig.«
»Und was denkst du nun von dem großen Francisco Falcón und seinem zuverlässigen Agenten Ramón Salgado?«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach denken?«
»Sag du es mir. Ich würde es gern hören.«
»Ich hatte gerade angefangen zu denken, dass er ein Monster ist … Ich hatte diese fünf schrecklichen Bilder in seinem Atelier gefunden … und jetzt … jetzt bin ich mir sicher. Was ich nicht wusste, war, dass er auch ein Betrüger ist. Das fügt dem Ganzen eine endgültige Dimension hinzu … oder nimmt sie ihm. Jetzt ist er nur noch ein Monster. Sonst ist nichts mehr übrig.«
»Die Menschen sind sehr nachsichtig mit Genies«, sagte die Stimme. »Das wusste dein Vater. Heutzutage kann man vergewaltigen und morden – solange man ein Genie ist, wird es toleriert. Warum akzeptieren wir deiner Ansicht nach das Böse in einem Menschen mit einem gottgegebenen Talent? Warum lassen wir uns die Arroganz und Flegelhaftigkeit eines Fußballers bieten, bloß weil er fantastische Tore schießen kann? Warum dulden wir Alkoholismus und Perversion bei einem Schriftsteller, solange er uns seine Gedichte schenkt? Warum würden wir vergewaltigen,
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