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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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sind. Zunächst arbeitet er mit dem Bleistift. Er hat eine Art, seinen ganzen Körper in jeden Strich zu legen, die ihrerseits zu ballettartigen Schnörkeln werden, als würde er das Werk aus sich heraus aufs Papier tanzen. Nach drei Bögen fordert er P. auf, die Position zu verändern. Er geht um sie herum und steckt ihre Haare mit einem Pinsel hoch, bevor er wieder vor sie tritt und ihre Schultern nach hinten drückt, sodass ihre Wirbelsäule einen Kamm bildet. P. erkennt seine Erregung, schiebt mit instinktiver Vertrautheit seinen Kaftan hoch und streichelt ihn, bis er zittert. Sie beugt ihren Kopf über ihn, und er stöhnt. Mit einer Hand packt sie seinen Hintern und zieht ihn an sich. Langsam und wie zum Gebet senkt sie ihren Kopf. Seine Hände zittern auf ihrer Schulter, und er stößt einen Schrei aus wie ein Kind, das mitten in der Nacht plötzlich aufwacht. Sie saugt ihn auf. Ich gehe.
    Ich kehre in mein Atelier zurück und greife zum ersten Mal seit Monaten zum Pinsel. Ich befestige fünf leere Leinwände an der Wand, rühre schwarze Farbe an und greife zum Bleistift. Mein Verstand ist wie Stahl. Gedanken schießen durch die Kanäle wie Kugeln durch einen Lauf, und nach kurzer Zeit habe ich eine Zeichnung von extremer Obszönität skizziert, P. zwischen zwei Satyrn von abstoßender Lüsternheit. Ich male mit bösartigem Elan, gleichzeitig jedoch klar und präzise, sodass die fünf Einzelbilder nach dem Abhängen für den Betrachter nur aussehen wie fünf schwarz-weiße Leinwände. Erst durch exakte Konfiguration nimmt meine Rache Gestalt an.

    3. Dezember 1960, Tanger
    Ich arbeite nicht. Ich beobachte nur. Mein Blick ruht allein auf der Verwicklung zweier Menschen. Ich bin kalt wie Eis geworden. Mein Verstand arbeitet mit der Klarheit eines Rufes über ein stilles, schneebedecktes Feld. Ich habe T.C.s winterlichen Arbeitsrhythmus herausgefunden. Er steht spät auf, immer erst nach Mittag. Dann geht er zu einem kleinen Café, frühstückt und trinkt Tee. Dann raucht er drei oder vier Zigaretten. Nachmittags kehrt er selten in seine Werkstatt zurück. Manchmal besucht er das Haus seiner Familie. Er hat eine Frau und drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen zwischen fünf und acht Jahren. An anderen Tagen geht er an den Strand. Er mag schlechtes Wetter. Von meinem Atelier aus beobachte ich, wie er mit ausgebreiteten Armen in Wind und Regen steht, als ob er die reinigende Kraft der Elemente willkommen heißen wollte. Abends arbeitet er. Ich habe ihn beobachtet. Er ist so vertieft, dass er nichts bemerkt. Manchmal arbeitet er selbst in der Eiseskälte nackt. Hin und wieder sinkt er buchstäblich vor Erschöpfung zu Boden. Er hat einen vierten Akt fertig gestellt. P. kniet. Es ist ein phänomenales Werk, ein Juwel rätselhafter Schlichtheit der Form, aber von derselben Qualität, die auch die anderen drei Akte auszeichnet – die Freuden und Gefahren der verbotenen Frucht.

    28. Dezember 1960, Tanger
    Es ist eine eiskalte Nacht, vielleicht die kälteste, die ich je in Tanger erlebt habe. Der Wind weht von Nordwesten und bringt kühle Atlantikluft. Ich gehe durch die stille Stadt. Nicht einmal die Hunde sind vor der Tür. Bis zu T.C.s Atelier ist es ein langer Weg, und ich brauche mehr als eine Stunde. Ohne nachzudenken, klettere ich an meiner gewohnten Stelle über die Mauer. (Ich habe einen Punkt gefunden, wo ich auf der anderen Seite auf einem Weg lande und keinen Fußabdruck in der Erde hinterlasse). Ich gehe in sein Schlafzimmer, höre seine Schritte im Nebenzimmer und weiß, dass er arbeitet. Ich trete ins Licht seines Ateliers. Eine mit Holz befeuerte Kohlepfanne in der Ecke wärmt den Raum. Er arbeitet weiter. Ich schleiche mich von hinten an. Die Muskeln unter seinem Kaftan sind angespannt. Direkt hinter ihm bleibe ich stehen, doch er bemerkt mich immer noch nicht. Er trägt die Farbe so dick auf wie Fleisch. Ich hauche in seinen Nacken, und er erstarrt. Er dreht sich nicht um. Er bringt es nicht über sich.
    »Ich bin’s«, sage ich.
    Jetzt wendet er sich um. Sein Blick sucht in meinen Augen nach einem Grund und, als sich das als fruchtlos erweist, nach Mitleid. Ich habe weder das Bedürfnis noch das Verlangen nach verbaler Rechtfertigung, sondern hebe einfach die Hand und schlage mit ihrer Kante so heftig gegen seinen Hals, dass ich seinen Kehlkopf laut knacken höre. Pinsel und Palette fallen ihm aus der Hand, und er sinkt auf die Knie. Verzweifelt versucht er, durch seinen zertrümmerten Kehlkopf zu

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