Der Blinde von Sevilla
vor zwei Jahren hatte er eigentlich niemanden mehr verloren.
Die Jefatura lag an der Kreuzung der Calle Blas Infante und der Calle López de Gomara. Er parkte auf der Rückseite des Gebäudes und ging die zwei kurzen Treppen bis zu seinem Büro, das spartanisch eingerichtet war und keinen einzigen persönlichen Gegenstand enthielt. Es gab zwei Stühle, einen Metallschreibtisch und ein paar graue Aktenschränke. Falcón hielt nichts von Ablenkungen bei der Arbeit.
Er hatte 35 Nachrichten, allein fünf von seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Jefe de Brigada de Policía Judicial, Comisario Andrés Lobo, dieser handelte zweifelsohne auf Druck seines eigenen Chefs, Comisario Firmin León, dessen Beziehung zu Raúl Jiménez Falcón bereits auf den Fotos im Arbeitszimmer des Opfers dokumentiert gesehen hatte. Falcón marschierte direkt ins Vernehmungszimmer, wo Ramírez mit erhobenen Fäusten vor Basilio Lucena stand, als wollte er den Mann schlagen. Er rief den Inspector nach draußen, besprach mit ihm die Strategie zur Vernehmung des Mädchens und bat darum, Pérez nach unten zu schicken. Dann betrat er das Vernehmungszimmer, wo Lucena kurz aufblickte, bevor er wortlos weiter an seiner Aussage schrieb.
»Was Sie da eben zu Inspector Ramírez gesagt haben …«, setzte Falcón an, weil ihn Lucenas brutale Bemerkung immer noch irritierte.
»Jeder Student kann Ihnen sagen, dass Dozenten nicht besonders gut auf Schwachköpfe reagieren.«
»War das alles?«
»Ihre Besorgnis wundert mich, Inspector Jefe.«
Auch Falcón wunderte sich und fragte sich, ob er dabei war, sich zum Narren zu machen.
»Ich bezweifle, dass meine Mutter je so gut im Bett war wie Consuelo, falls Sie sich das fragen«, sagte Lucena.
»Sie sind ein verwirrender Mensch, Señor Lucena.«
»Wir leben in einer verwirrten Zeit«, erwiderte er.
»Wie lange haben Sie sich schon mit Señora Jiménez getroffen?«
»Etwa ein Jahr«, sagte er. »Dies war mein erster Besuch im Edificio Presidente, seit wir uns kennen gelernt haben … Pech, würde ich sagen.«
»Und Marciano Ruíz?«
»Sie sind genauso neugierig wie der Inspector, stimmt’s?«, sagte er. »Ich langweile mich schnell, Don Javier. Marciano und ich treffen uns, wenn mein Ennui seinen Höhepunkt erreicht.«
Pérez kam herein, sagte Falcón, in welchem Zimmer die Prostituierte wartete, und übernahm.
Das Mädchen saß rauchend am Tisch und spielte mit zwei Schachteln Fortuna, die sie immer wieder übereinander stapelte. Ihr Haar war kurz und ungleichmäßig geschnitten, als hätte sie das ohne Spiegel selbst erledigt. Sie hatte blauen Lidschatten und rosa Lippenstift aufgetragen und starrte auf den leeren Bildschirm vor sich. Über der Lehne eines unbenutzten Stuhls hing eine blonde Perücke. Sie trug einen karierten Minirock, eine weiße Bluse und schwarze Stiefel. Sie war winzig und wirkte fast wie ein Schulmädchen – bis auf die Augen, in die sich all das, was sie erlebt haben musste, tief eingegraben hatte.
Ramírez schaltete das Aufnahmegerät ein, stellte die Prostituierte als Eloisa Gómez vor und hielt seine und Falcóns Anwesenheit fest.
»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«, fragte Falcón.
»Noch nicht. Es hieß, es ginge um ein paar Fragen, aber ich kenne euch Typen. Ich bin schon mal hier gewesen … ich kenne eure Spielchen.«
»Wir sind anders als die üblichen Typen«, sagte Ramírez.
»Stimmt«, sagte sie. »Wer sind Sie?«
Falcón deutete ein Kopfschütteln in Ramírez’ Richtung an.
»Sie waren gestern Nacht mit einem Freier zusammen …«, sagte Falcón.
»Ich war gestern Nacht mit jeder Menge Freiern zusammen. Es ist Semana Santa«, sagte sie. »Die geschäftigste Zeit des Jahres.«
»Noch geschäftiger als während der Feria?«, fragte Ramírez leicht überrascht.
»Auf jeden Fall«, sagte sie, »vor allem die letzten paar Tage, wenn die ganzen Touristen kommen.«
»Einer Ihrer Freier war Raúl Jiménez. Sie haben ihn gestern Nacht in seiner Wohnung im Edificio Presidente besucht.«
»Ich kannte ihn als Rafael. Don Rafael.«
»Hatten Sie ihn vorher schon einmal getroffen?«
»Er ist ein Stammkunde.«
»In seiner Wohnung?«
»Gestern Abend war ich vielleicht zum dritten oder vierten Mal in seiner Wohnung. Meistens ist es nur die Rückbank seines Autos.«
»Und wie lief es diesmal ab?«, fragte Ramírez.
»Er hat auf dem Handy angerufen. Ein paar von uns haben sich zusammengetan und letztes Jahr drei Handys gekauft.«
»Um wie viel Uhr?«
»Ich
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