Der Blinde von Sevilla
an.«
Falcón ging in sein Büro und rief Baena und Serrano an, um zu hören, ob sie in der Nähe des Edificio Presidente irgendwelche Zeugen gefunden hatten, was jedoch nicht der Fall war. Es waren kaum Menschen unterwegs, die Geschäfte hatten geschlossen. Die meisten Einheimischen waren bei den Prozessionen in der Innenstadt.
Er legte auf und ließ nacheinander sämtliche Fingerknöchel knacken, eine Angewohnheit, die Inés gehasst hatte. Dabei geschah es vollkommen unbewusst, fast eine Art Reflex, um sich zu sammeln. Inés hatte sich jedes Mal geschüttelt.
Falcón rief Comisario Lobo an, der ihn in sein Büro zitierte. Auf dem Weg zum Fahrstuhl traf er Ramírez und sagte ihm, er solle den Papierkram für das Treffen mit Juez Calderón vorbereiten. Dann fuhr er in den obersten Stock. Lobos Sekretärin, eine jener minimalistischen Sevillanerinnen, die sich jedwede Extravaganz ausschließlich für ihre Freizeit aufsparen, schickte ihn mit einem knappen Wimpernschlag hinein.
Lobo stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem Fenster und machte Kniebeugen, während er die Grünanlage des Parque de los Principes betrachtete. Er war klein und untersetzt mit großen, groben Bauernpranken, einem bulligen Nacken und kurzen grauen Haaren. Ewige Zeiten hatte er eine schwere Brille mit dicker schwarzer Fassung aus einer anderen Ära getragen, bis seine Frau ihn vor einem Jahr zu Kontaktlinsen überredet hatte. Die versuchte Imagekorrektur ging daneben, weil er schlammfarbene Augen hatte, der fehlende Brillenrahmen seine Hakennase noch deutlicher hervortreten ließ und generell mehr von seinem brutal wirkenden Gesicht entblößt wurde, als man sehen wollte. Mit seinen schmalen Lippen, die nur einen Hauch dunkler waren als seine Haut, sah er krimineller aus als die meisten Insassen der Arrestzellen, doch er war ein guter Chef, der ein offenes Wort schätzte und stets hinter seinen Beamten stand.
»Wissen Sie, worum es geht?«, fragte er über die Schulter.
»Raúl Jiménez.«
»Nein, Inspector Jefe, es geht um Comisario León.«
»Er war auf den Fotos in Jiménez’ Arbeitszimmer.«
»Mit wem war er im Bett?«
»Es waren nicht solche …«
»Kleiner Scherz, Inspector Jefe«, sagte Lobo. »Wahrscheinlich haben Sie auf diesen Fotos noch jede Menge andere functionarios entdeckt.«
»Ja.«
»Mich auch?«
»Nein, Comisario.«
»Weil ich nicht drauf bin, Inspector Jefe«, sagte er und ging eilig zu seinem Schreibtisch.
Sie setzten sich, und Lobo faltete die Hände, als wollte er kleine Köpfe zerquetschen.
»Sie waren zur Zeit der Expo 1992 noch nicht hier?«, fragte er.
»Damals war ich in Saragossa.«
»Bei der Expo ’92 herrschte hier eine komplett andere Situation als bei der Olympiade in Barcelona. Sie werden sich bestimmt erinnern, dass die Katalanen dort Gewinn gemacht haben, die Andalusier hier hingegen Schwindel erregende Verluste eingefahren haben.«
»Es gab Korruptionsvorwürfe.«
»Vorwürfe!«, brüllte Lobo unvermittelt heftig. »Nicht bloß Vorwürfe, Inspector Jefe. Es gab Korruption, so viel Korruption, dass es peinlich war, wenn man keine Millionen verdient hat. So peinlich, dass diejenigen, die es nicht geschafft hatten, sich die Taschen voll zu stopfen, losgegangen sind und sich Mercedes und BMWs geleast haben, damit es so aussah, als hätten auch sie sich eine goldene Nase verdient.«
»Das war mir nicht klar.«
»Und nicht bloß Einheimische. Auch die Madrileños sind in Scharen eingefallen, weil sie erkannten, dass hier vor Ort eine gewisse Haltung dominierte, eine Nachlässigkeit, eine Unaufmerksamkeit gegenüber Kleinigkeiten, die sich finanziell ausnutzen ließ.«
»Und inwiefern ist das zehn Jahre später noch relevant?«
»Wissen Sie, wie viele Personen deswegen verurteilt worden sind?«
»Ich kann mich nicht erinnern, Comisario.«
»Keiner!«, sagte Lobo und schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch. »Kein Einziger.«
»Hermanos Lorenzo«, sagte Falcón. »Der Bauunternehmer.«
»Was ist mit ihm?«
»Raúl Jiménez war bis 1992 sein Geschäftspartner.«
»Jetzt begreifen Sie langsam. Raúl Jiménez war im Bauausschuss für die Expo de Sevilla. Er war im Aufsichtsrat, der für Planung und Bau des Geländes zuständig war. Hermanos Lorenzos Unternehmen war nicht die einzige Baufirma, zu der er Verbindungen hatte.«
»Ich weiß immer noch nicht genau, inwiefern das zehn Jahre später für einen Mord relevant sein sollte.«
»Vielleicht ist es das auch
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