Der Blinde von Sevilla
den Innenhof, wo er die kühle Abendluft und die beinahe vollkommene Stille einatmete. Das Tosen der Stadt kam in dem dunklen, hohlen Mittelpunkt seines Hauses nur noch als ein fernes Grollen an. Er räkelte sich, streckte die Arme aus – und sah zwischen den Bögen der Galerie über dem Innenhof das, was Eloisa Gómez einen »beweglichen Schatten« genannt hätte. Eilig rannte er die Treppe hinauf und kramte dabei in der Tasche nach dem Schlüssel zu dem schmiedeeisernen Tor am Ende der Galerie, das zu einem weiteren Säulengang vor dem alten Atelier seines Vaters führte. Doch als er durch das Gitter spähte, war da nichts. Also kehrte er zu dem Bogen zurück, unter dem er die Bewegung ausgemacht zu haben glaubte, und blickte auf den Innenhof. Das Wasser im Brunnen war glatt und schwarz wie eine in den Himmel starrende Pupille. Ich bin bloß müde, dachte er und kniff die Augen zu.
Er verließ das Haus durch eine kleine Tür in dem massiven, messingbeschlagenem Eingangstor zu seinem überdimensional großen Haus in der Calle Bailén. Es war zu groß für ihn, das wusste er, zu protzig für seine Position, doch jedes Mal, wenn er einen Verkauf erwog, verwarf er den Plan gleich wieder – als viel zu kompliziert. Zunächst müsste er den testamentarisch festgelegten letzten Willen seines Vaters endlich ausführen, das Atelier räumen und alles verbrennen. Wirklich alles, bis auf die letzte grobe Skizze. Das konnte er einfach nicht. Er war seit dem Tod seines Vaters vor knapp zwei Jahren nicht einmal mehr in dessen Atelier gewesen oder hatte auch nur das schmiedeeiserne Tor zu dem Säulengang geöffnet.
Der Anwalt seines Vaters war drei Monate nach Verlesung des Testaments verstorben, und Paco und Manuela war es egal. Sie waren zu beschäftigt mit ihrer eigenen Erbschaft – Pacos finca zur Stierzucht bei Las Cortecillas hoch oben in der Sierra de Aracena und Manuelas Ferienvilla in el puerto de Santa Maria. Sie hatten nicht die gleiche Beziehung zu ihrem Vater gehabt wie er. Seit seiner Versetzung nach Sevilla nach dem ersten Herzinfarkt seines Vaters hatte Javier beinahe täglich mit ihm gesprochen. Wenn sie sonntags nicht gemeinsam zu Mittag essen gegangen waren, hatte er sich zumindest auf einen Fino mit ihm getroffen, um ihn aus dem Haus zu locken. Sie hatten beinahe das Maß an Vertrautheit wiedergefunden, das sie Anfang der 70er Jahre gehabt hatten, als er noch ein Junge war, das einzige verbliebene Kind, nachdem Manuela zum Studium der Tiermedizin nach Madrid gegangen war und Paco sich nach einer schweren Beinverletzung, die er sich als novillero in der Stierkampfarena La Maestranza in Sevilla zugezogen hatte und die seine Karriere als Torero frühzeitig beendete, auf seiner Farm einrichtete.
Falcón ging durch die engen gepflasterten Straßenschluchten zu dem Lokal in der Calle Gravina, eine umgebaute mercería , in der die alten Waagen noch auf dem Tresen standen. Menschen strömten mit einem Glas Bier in der Hand auf die Straße. Manuela und ihr Freund standen im dichtesten Gedränge. Als Falcón sich einen Weg zu ihnen bahnte, gaben ihm Männer, die er kaum kannte, im Vorbeigehen un abrazo , fremde Frauen küssten ihn – Manuelas Freundinnen. Auch seine Schwester küsste ihn und drückte ihn an ihren im Fitness-Studio gestählten Körper. Alejandro, ihr Freund, drückte Falcón ein Bier in die Hand.
»Kleiner«, sagte sie wie immer seit Kindertagen, »du siehst müde aus. Noch mehr Leichen?«
»Nur eine.«
»Doch nicht wieder so ein grausames Drogengemetzel?«, fragte sie und zündete sich eine ihrer stinkenden Mentholzigaretten an, die sie für gesünder hielt.
»Grausam schon, aber keine Drogen dieses Mal. Komplizierter.«
»Ich weiß nicht, wie du das schaffst.«
»Wahrscheinlich kann sich auch kaum einer deiner Freunde vorstellen, dass eine so schöne und kultivierte Frau wie Manuela Falcón ihre Arme bis zu den Schultern in eine Kuh steckt, um tot geborene Kälber herauszuziehen.«
»Oh, das mache ich auch nicht mehr.«
»Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie du Pudel manikürst.«
»Du musst mit Paco reden«, sagte sie, ohne auf ihn einzugehen. »Er steht schwer unter Druck.«
»Die Feria ist die geschäftigste Zeit des Jahres.«
»Nein, nein, nicht deswegen«, flüsterte sie. »Es ist wegen der vacas locas. Er hat Angst, dass sich seine Herde mit BSE infiziert haben könnte. Ich teste sämtliche Tiere für ihn, inoffiziell.«
Falcón nippte an seinem Bier und aß dazu eine Scheibe
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