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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Augen das Licht noch immer einfangen können. Es waren die Augen, die man bei einem Künstler von seinem Rang erwartet hätte – aufmerksam, stechend und abgründig faszinierend. Auf dem Schnappschuss trug sein Vater ein weißes Dinnerjackett und eine schwarze Fliege. Auf der Rückseite stand Silvester, Tanger, 1953.
    Falcón arbeitete sich durch den Stapel Fotos und ärgerte sich über die miserable Qualität, während er sich fragte, warum er das eigentlich tat. Es war selbst angesichts seiner Gewohnheit, sich über Nebenaspekte in einem Fall voranzuarbeiten, absurd, weil es keinerlei Zusammenhang gab. Welchen Unterschied würde es machen, wenn er seinen Vater oder seine Mutter auf einem der Fotos entdeckte? Und wenn sie tatsächlich zur selben Zeit in Tanger gewesen wären wie Raúl und Gumersinda Jiménez, zusammen mit 40000 weiteren Spaniern? Doch je mehr Argumente er gegen seine unlogische Intuition zusammentrug, desto größer wurde seine Faszination, bis ihm kurz der Gedanke kam, dass er vielleicht einfach nur alt wurde.
    Die Fotos der Yacht, Schnappschüsse von Raúl Jiménez’ neuem Spielzeug, interessierten ihn kaum, bis ihm auf einem Bild im Hintergrund der Hafen voller Boote mit feiernden Menschen an Deck auffiel. Jiménez, seine Frau und seine Kinder waren im Vordergrund, Gumersinda winkte mit ihren beiden kichernden Kindern auf den Knien in die Kamera. Sie sahen glücklich aus. Falcón fuhr mit der Lupe an den anderen Booten hinter Jiménez’ Yacht entlang, stutzte beim Anblick eines Paares an Deck und tat die Ähnlichkeit als zufällig ab. Er suchte weiter und kehrte dann zu dem Paar zurück, wobei ihm auch klar wurde, warum er zunächst seinen Augen nicht getraut hatte. Sein Vater lehnte an der Reling einer Yacht, die sehr viel größer war als Raúls. Er küsste eine blonde Frau, die Falcón nicht richtig erkennen konnte. Es war ein flüchtiger, privater Moment, den der Fotograf zufällig festgehalten hatte. Tanger, 1958 las er auf der Rückseite. Das heißt, seine Mutter Pilar musste noch gelebt haben. Er betrachtete die blonde Frau genauer und stellte verblüfft fest, dass es Mercedes war, die zweite Frau seines Vaters. Ihm wurde so übel, dass er die Lupe beiseite schob und die Hände auf seine Augen presste. Das passierte, wenn man sich in Nebenaspekte vertiefte … man stieß auf unerwartete Wahrheiten. Deswegen tat er es ja.
    Das Telefon klingelte – es war seine Schwester, die ihn per Handy aus einer vollen Kneipe anrief.
    »Ich wusste, dass du zu Hause bist, wenn du nicht mehr im Büro hockst«, sagte Manuela. »Was machst du, Kleiner?«
    »Ich schaue mir ein paar alte Fotos an.«
    »Hey! Komm schon, Opa, du musst lernen, ein bisschen zu leben. Wir sind noch eine halbe Stunde in La Tienda. Komm doch vorbei und trink eine cervecita mit uns. Danach gehen wir im El Cairo essen. Wenn du magst, kannst du mitkommen, aber bring deinen Gehstock mit.«
    »Ich komme auf eine cervecita vorbei.«
    »Mach das, Kleiner. Nur noch eins. Eine sehr wichtige Bedingung …«
    »Ja, Manuela?«
    »Der Name ›Inés‹ ist tabu, okay?«
    Sie legte auf, und er sah kopfschüttelnd das stumme Telefon an. Manuelas Küchenpsychologie. Er zog sein Jackett an, rückte seine Krawatte gerade und griff in die Tasche, wo er die Adresse und Telefonnummer von Raúl Jiménez’ Sohn fand. Er probierte die Nummer auf gut Glück, und José Manuel Jiménez nahm ab. Falcón stellte sich vor und sprach ihm sein Beileid aus.
    »Man hat mich bereits informiert«, sagte Manuel Jiménez und wollte wieder auflegen.
    »Ich möchte mit Ihnen nur über …«
    »Ich kann jetzt nicht reden.«
    »Vielleicht könnten wir uns morgen treffen … auf ein kurzes Gespräch. Es wäre sehr wichtig für uns, einige Hintergrundinformationen zu bekommen.«
    »Ich weiß wirklich nicht …«
    »Ich würde natürlich nach Madrid kommen.«
    »Es gibt nichts zu sagen. Ich habe meinen Vater seit Jahren nicht mehr gesehen.«
    »Darum geht es ja gerade. Die Gegenwart interessiert mich nicht.«
    »Da gibt es wirklich nichts Berichtenswertes.«
    »Schlafen Sie eine Nacht drüber. Ich rufe Sie morgen Vormittag noch einmal an. Es würde bestimmt nicht lange dauern und wäre mir eine große Hilfe.«
    Jiménez stotterte etwas Unverständliches und legte auf. Falcón wusste, dass der Mann Anwalt war, und doch hatte er viel zu unsicher und überhaupt nicht selbstbewusst genug für einen Vertreter dieses Berufsstandes gewirkt. Er schaltete das Licht aus und trat in

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