Der Blinde von Sevilla
sein ganzer Körper schien unvermittelt von einem undurchdringlichen Panzer geschützt. Niemand pfuschte an Ramírez’ Innenleben herum. Falcón betrachtete ihn im Spiegel der Scheibe und beschloss, es dem Sevillano leichter zu machen.
»Vielleicht weil man sich als Junge mit einem Mädchen lächerlich gemacht hat oder feige war oder darin versagt hat, einen Freund zu beschützen, oder eine moralische Schwäche gezeigt hat – nicht für seine Überzeugungen eingetreten ist, weil man Angst hatte, verprügelt zu werden. So etwas, nur übertragen auf ein Erwachsenenleben mit erwachsenen Implikationen.«
Ramírez starrte auf seine Krawatte. Weiter nach innen hatte er sich noch nie gewandt.
»Meinen Sie solche Sachen wie die, vor denen Comisario Lobo Sie gewarnt hat?«
Eine wahrhaft brillante Ablenkung, dachte Falcón. Korruption – ein Makel, den man bewältigen konnte. Waschen, spülen, schleudern und vergessen. Es war schließlich nur Geld, alles Teil des großen Spiels.
»Nein«, sagte er.
Ramírez schlenderte Richtung Tür und verabschiedete sich in den Feierabend. Falcón nickte ihm in der Scheibe zu.
Er fühlte sich mit einem Mal erschöpft. Die ungeheure Last des Tages drückte auf seine Schultern. Er schloss die Augen, doch statt an Essen, ein Glas Wein und Schlaf zu denken, kreisten seine Gedanken weiterhin um die eine Frage:
Was konnte so schrecklich sein?
8
Donnerstag, 12. April 2001, Javier Falcóns Haus,
Calle Bailén, Sevilla
Javier Falcón saß im Arbeitszimmer des großen Hauses aus dem 18. Jahrhundert, das seinem Vater gehört hatte. Das Zimmer lag im Erdgeschoss an dem von einem gewölbten Säulengang umgebenen Patio. In der Mitte des Innenhofes befand sich ein Brunnen mit der Bronzefigur eines Jungen, der, eine Urne über der Schulter, graziös auf einem Zeh balancierte. Wenn der Brunnen in Betrieb war, sprudelte Wasser aus der Urne, doch Falcón ließ ihn nur im Sommer laufen, wenn er sich beim Plätschern des Wassers einbilden konnte, es wäre kühl.
Er war allein im Haus. Encarnación, die Haushälterin, die auch schon seinem Vater den Haushalt geführt hatte, ging um sieben, sodass er sie nie sah. Die einzigen Indizien ihrer Anwesenheit waren gelegentliche kurze Briefe sowie ihre ärgerliche Angewohnheit, Gegenstände umzuräumen. Unvermittelt waren die Topfpflanzen im Innenhof in einer anderen Ecke arrangiert, Bildnisse der Virgen del Rocío tauchten in zuvor unbewohnten Nischen auf. Seine Frau – seine Ex-Frau – war auch immer sehr für Veränderungen gewesen.
»Aus diesem Raum könnten wir dein Billardzimmer machen«, hatte sie gesagt. »Mit einem Humidor für deine Zigarren.«
»Aber ich rauche doch gar nicht.«
»Ich fände es nett.«
»Billard spiele ich auch nicht.«
»Du solltest es mal versuchen.«
Diese albernen Gespräche fielen ihm jetzt wieder ein, während er mit einer Lupe an seinem Schreibtisch saß. Nicht so ein lächerliches altes Ding à la Sherlock Holmes, das seine Frau ihm zum Geburtstag geschenkt hatte und das für den Inspector Jefe der Grupo de Homicidios einfach zu absurd war. Die Lupe, die er benutzte, war auf einen Plexiglaswürfel montiert, der das betrachtete Objekt auch beleuchtete.
Er ging die Fotos durch, die er in Raúl Jiménez’ Schreibtisch gefunden hatte. Vor ihm stand ein gerahmtes Foto seiner Mutter, die ihn, flankiert von seinem damals siebenjährigen Bruder Paco und seiner fünfjährigen Schwester Manuela, als Säugling auf dem Arm hielt. An diesem Bild lehnten zwei weitere Fotos. Das erste zeigte seine Mutter in einem Badeanzug am Strand, den Wind in den Haaren und eine mit weißblättrigen Gummiblumen besetzte Badekappe in der Hand. Von den privaten Schnappschüssen war dieser sein liebster. Auf der Rückseite stand Tanger, Juni 1952. Sie war damals 25 Jahre alt gewesen, und wenn man sie dort sah, sprühend vor Lebenslust, konnte man unmöglich glauben, dass sie nur noch neun Jahre zu leben hatte.
Das zweite Foto war ein Bild seines Vaters – die schwarzen Haare zurückgekämmt, ein Menjou-Bärtchen, die Nase zu groß für sein junges Gesicht, ein sinnlicher Mund und Augen, die selbst in Schwarzweiß außergewöhnlich waren. Sie wirkten, als wären sie es gewohnt, auch über große Entfernungen klar zu sehen, und in den grünen Iris, die zu den Pupillen hin bernsteinfarben wurden, schimmerte jedes noch so schwach einfallende Licht. Selbst mit über 80 und bereits geschwächt von seinem ersten Herzinfarkt, hatten diese grünen
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