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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Devisenhandel angefangen. Irgendwann hatte er sogar seine eigene Bank – aber das war im Grunde bedeutungslos. Außerdem hat er mit Immobilien gehandelt und eine Baufirma betrieben.«
    »Woher wissen Sie das alles?«, fragte Falcón. »Sie können damals kaum zehn gewesen sein, und ich bezweifle, dass er Ihnen viel erzählt hat.«
    »Ich habe es Stück für Stück zusammengesetzt, Inspector Jefe. So funktioniert mein Verstand. Es war meine Art zu begreifen, was geschehen ist.«
    Schweigen senkte sich über den Raum wie eine Todesnachricht. Falcón wollte ihn bedrängen fortzufahren, doch Jiménez presste seine Lippen aufeinander und schien sich gegen irgendetwas zu wappnen.
    »Sie sind 1950 geboren«, half Falcón ihm auf die Sprünge.
    »Genau neun Monate nach dem Hochzeitstag.«
    »Und Ihre Schwester?«
    »Zwei Jahre später. Bei ihrer Geburt gab es Komplikationen. Ich weiß, dass sie die Geburt um ein Haar nicht überlebt hätte und meine Mutter hinterher sehr schwach war. Eigentlich wollten meine Eltern viele Kinder haben, aber das ging danach nicht mehr. Es hat auch meine Schwester beeinträchtigt.«
    »Inwiefern?«
    »Sie war ein von Natur aus sehr gutmütiges Mädchen, immer fürsorglich … besonders gegenüber Tieren, vor allem streunenden Katzen, die in Tanger massenhaft herumliefen. Es gab nichts, was man … sie war einfach …« Seine Stimme versagte, und er rang mit den Händen, während er die nächsten Worte hervorpresste. »Sie war einfach ein wenig schlicht. Nicht dumm … einfach unkompliziert. Nicht wie andere Kinder.«
    »Hat Ihre Mutter sich wieder vollständig erholt?«
    »Ja, ja, sie hat sich wieder vollständig erholt. Sie …« Jiménez verlor den Faden und starrte an die Decke. »Sie wurde sogar noch einmal schwanger. Es war eine sehr schwierige Zeit. Mein Vater musste Tanger verlassen, doch meine Mutter war nicht transportfähig.«
    »Wann war das?«
    »Ende 1958. Er hat meine Schwester mitgenommen, und ich bin bei meiner Mutter geblieben.«
    »Wohin ist er gegangen?«
    »Er hat ein Haus in einem Dorf in den Hügeln oberhalb von Algeciras gemietet.«
    »War er auf der Flucht?«
    »Nicht vor den Behörden.«
    »Ein faules Geschäft?«
    »Das habe ich nie erfahren«, sagte er.
    »Und Ihre Mutter?«
    »Sie bekam das Baby. Einen Jungen. In der Nacht seiner Geburt tauchte mein Vater wie durch Zauberhand plötzlich auf. Er war heimlich rübergekommen. Er machte sich Sorgen, dass wie beim letzten Mal irgendwas schief gehen und sie die Geburt nicht überleben könnte. Er war …«
    Jiménez runzelte die Stirn, als wäre er auf etwas ganz und gar Unbegreifliches gestoßen. Er blinzelte gegen die Tränen an.
    »Das ist ein sehr schwieriges Terrain für mich, Inspector Jefe«, sagte er. »Ich dachte, es würde mich freuen zu hören, dass mein Vater gestorben ist. Ich dachte, es wäre eine Erleichterung, eine Befreiung von … Ich dachte, es würde das Ende all dieser quälenden Gedanken bedeuten.«
    »Quälende Gedanken, Señor Jiménez?«
    »Gedanken, die kein Ende haben, die unendlich sind, weil es keine Lösung gibt. Gedanken, die einen für immer in der Schwebe halten.«
    Obwohl er sich in durchaus verständlichen Worten ausdrückte, blieb Falcón ihr Sinn verborgen. Trotzdem hatte er, ohne zu wissen warum, das Gefühl, etwas von der Qual dieses Mannes zu verstehen. Seine Worte hatten etwas in seinem eigenen Kopf angestoßen – Erinnerungen an den Tod seines Vaters, Dinge, die ungesagt geblieben waren, das unbetretene Atelier.
    »Vielleicht ist das einfach unser natürlicher Zustand«, sagte er. »Dass wir, weil wir von komplizierten Wesen abstammen, die wir nicht kennen können, das Ungeklärte immer weitertragen und unsere eigenen unlösbaren Fragen darauf türmen, die wir dann unsererseits weiterreichen. Vielleicht ist es besser, unkompliziert zu sein wie Ihre Schwester, unbelastet vom Gepäck vorheriger Generationen.«
    Jiménez sah ihn unter buschigen Brauen hervor durchdringend an und schien die Worte aus Falcóns Mund förmlich aufzusaugen. Dann richtete er sich auf und setzte eine unverbindlichere Miene auf.
    »Das einzige Problem damit ist nur …«, begann er, »… zumindest im Fall meiner Schwester, dass sie wegen ihrer mangelnden intellektuellen Fähigkeiten keine Möglichkeit hatte, das Chaos nach der Katastrophe, die unsere Familie getroffen hat, neu zu ordnen. Sie hat ihre dünne Verbindung zu einer strukturierten Existenz verloren und schwebte fortan im All. Ja, ich glaube, so

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