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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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angefangen?«
    »Mein Vater war ein Instinktmensch. Seine Gehirnwindungen waren nicht die eines normalen menschlichen Wesens. Um als Geschäftsmann so erfolgreich zu sein wie er – und ich weiß das, weil ich selbst für einige sehr erfolgreiche Geschäftsleute arbeite –, darf man nicht denken wie gewöhnliche Menschen …«
    »Jetzt kann ich Ihnen schon wieder nicht folgen. Sie sind zu schnell für mich.«
    Das Kinn entschlossen vorgereckt, beugte sich Jiménez, über den Tisch. »Glauben Sie bloß nicht, ich wüsste nicht, was Sie da machen, ich habe nie zuvor mit irgendjemand dem über diese Dinge gesprochen – außer mit dem Mann, der den Knoten in meinem Gehirn gelöst hat. Und wissen Sie, warum? Weil ich nicht im Traum daran denken würde, den Seelenfrieden meiner Frau mit derart schrecklichen Dingen zu belasten. Sie würden unser Zuhause verdüstern, und wir müssten im Dunkeln weiterleben.«
    »Es tut mir Leid«, sagte Falcón.
    Jiménez hob entschuldigend die Hand, als ihm klar wurde, dass er zu ernst geworden war. Er richtete sich wieder auf und straffte seine Schultern. »Wir haben Tanger in der Nacht verlassen. Keine Koffer, nur die Kleider an unserem Leib sowie das Hochzeitskleid und den Schmuck meiner Mutter. Am Hafen waren alle vorher geschmiert worden, wir mussten keine Papiere vorzeigen. Es gab einen Moment, in dem es so aussah, als würden wir aufgehalten werden. Doch dann wechselte weiteres Geld den Besitzer, wir gingen an Bord eines Bootes und fuhren davon. In dem Dorf oberhalb von Algeciras holten wir noch meine Schwester ab und begannen dann unser Zigeunerleben. Dabei herrschte nie das Gefühl unmittelbarer Gefahr. Mein Vater lief nie wieder rastlos im Haus auf und ab, doch sobald sein Instinkt ihm sagte, dass es Zeit wurde, weiterzuziehen … zogen wir weiter. Meistens in größere Städte. Wir haben eine Zeit lang hier in Madrid gewohnt, doch mein Vater hasste Madrid. Ich glaube, in Madrid kam er sich provinziell vor und fühlte sich daran erinnert, wer er war.
    Anfang 1964 kamen wir nach Almería. Mein Vater unterhielt ein paar Küstenmotorschiffe, die zwischen Algeciras und Cartagena pendelten; dann erhielt er die Chance, in Almería ein Hotel direkt am Strand zu errichten, und wir zogen dorthin. Die Vorstellung, sich niederzulassen, schien meinem Vater zu gefallen. Er muss gedacht haben, dass fünf oder sechs Jahre auf der Flucht genug gewesen waren, dass das Leben weitergeht, dass selbst ein tiefer Hass ohne die Nahrung der Rache langsam stirbt. Er hat sich geirrt. Deswegen dachte ich, es wäre wichtig zu erfahren, was er diesen Menschen getan hatte, warum sie keine Ruhe gaben, bis sie ihn aufgespürt hatten. Und ich muss gestehen, dass es mich nach wie vor interessieren würde, obwohl ich meine Besessenheit davon mittlerweile durch den Gedanken an die Irrelevanz besänftigt habe.«
    »Warum wollen Sie es dann immer noch wissen?«
    »Ich glaube, es würde mir helfen einzuschätzen, was für ein Ungeheuer er war.«
    Falcón lief ein kalter Schauer über den Rücken. Das Wort Ungeheuer hatte unvermittelt eine Erinnerung an seinen eigenen Vater heraufbeschworen, der ein Ungeheuer gespielt und mit geiferndem Gesicht so getan hatte, als wollte er sie verschlingen. Sein Vater kannte bei solchen Spielen keine Hemmungen, weil es in seiner Welt kaum etwas gab, was persönliche Kontrolle erfordert hätte, und Falcón hatte oft noch tagelang den Abdruck seiner Zähne auf dem Rücken gespürt.
    »Alles in Ordnung, Inspector Jefe?«
    Falcón hoffte, dass er nicht eine der monströsen Fratzen seines Vaters gezogen hatte.
    »Quälende Gedanken«, sagte er.
    »Wo waren wir?«
    »Almería 1964«, erinnerte Falcón ihn. »Sie haben noch gar nicht erwähnt, wie Ihrer Mutter die ständigen Umzüge bekommen sind.«
    »Gesundheitlich ging es ihr gut, und wenn sie unglücklich war, hat sie es weder uns noch ihm gezeigt. Ein Mitspracherecht für Frauen war damals sowieso noch nicht vorgesehen. Sie hat sich einfach in alles gefügt.«
    »Und Ihr Vater hat das Hotel gebaut?«
    »Ich sollte Ihnen noch etwas über Marta in jener Zeit erzählen. Ich sagte doch, dass sie sich gerne gekümmert hat.«
    »Um Katzen.«
    »Ja, um Katzen. Nachdem wir Tanger verlassen hatten, konzentrierte sie all diese Gefühle auf Arturo. Meine Mutter hätte seine Erziehung auch ihr überlassen können. Sie machte alles für ihn. Er war ihr Leben. Seltsam, nicht wahr? Marta hatte nie Puppen. Sie bekam welche geschenkt, aber sie hat nie

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