Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
fühlt sich ihr Wahnsinn an … wie ein Astronaut sich fühlen muss, der die Verbindung zu seinem Raumschiff verloren hat und der fortan durch ein gewaltiges Nichts trudelt.«
    »Ich glaube, Sie haben etwas übersprungen.«
    »Ja«, sagte er, »und ich weiß auch, warum.«
    »Vielleicht sollten wir zu dem Zeitpunkt zurückgehen, wo Ihr Vater fürchtete, dass Ihre Mutter die Geburt nicht überleben könnte.«
    »Was ich damals dachte und worauf ich später immer wieder stieß, war die im Licht der weiteren Ereignisse überraschende Erinnerung, dass mein Vater meine Mutter zutiefst geliebt hat. Das ist etwas, was ich bis heute nur unter großen Schwierigkeiten anerkennen kann. Damals, als meine Mutter starb, war ich noch ein Kind und konnte das einfach nicht glauben. Ich dachte, er hätte sie vorsätzlich gebrochen.«
    »Und wieso haben Sie Ihre Meinung geändert?«
    »Durch Psychoanalyse, Inspector Jefe«, antwortete er. »Ich hätte nie gedacht, dass ich ein Kandidat für diese Seelenquacksalberei wäre. Ich bin Jurist. Mein Verstand funktioniert organisiert. Aber wenn man verzweifelt ist, voller Schmerz, und nur noch sieht, wie das eigene Leben um einen herum zusammenbricht, dann muss man es sich eingestehen. Man sagt sich: ›Ich bin verrückt und muss mit jemandem darüber reden.‹«
    Jiménez richtete diese Erklärung direkt an Falcón, als hätte er etwas in ihm bemerkt, das möglicherweise ebenfalls dieser Art von Aufmerksamkeit bedurfte.
    »Und was ist mit Ihrer Mutter und dem Baby geschehen?«, fragte Falcón.
    »Meine Mutter musste sich ein paar Tage erholen. Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Wir durften das Haus nicht verlassen, und das Personal war angewiesen zu erklären, dass niemand zu Hause sei. Das Essen wurde heimlich aus dem Haus eines Nachbarn gebracht. Auf der Straße waren bewaffnete Männer postiert, die sonst die Baustellen bewachten. Mein Vater lief im Haus auf und ab wie ein Panther im Käfig und blieb nur hin und wieder stehen, um durch einen Spalt zwischen den Fensterläden zu spähen, wenn er von der Straße ein Geräusch gehört hatte. Anspannung und Langeweile hielten sich die Waage. Es war der Beginn des Familienwahnsinns.«
    »Und Sie haben nie herausbekommen, wovor Ihr Vater Angst hatte?«
    »Damals war ich ein Kind, und es war mir egal. Ich wollte mich bloß nicht langweilen. Später … viel später dachte ich, es wäre wichtig herauszufinden, was meinen Vater derart getrieben haben könnte. 30 Jahre später beschloss ich daher, dass er der einzige Mensch war, den ich fragen konnte. Es war das letzte Mal, das wir uns persönlich unterhalten haben. Und das ist die Magie des menschlichen Hirns.«
    »Was?«, fragte Falcón und schreckte auf seinem Stuhl hoch, als hätte er das Entscheidende verpasst.
    »Wenn wir etwas in uns haben, das wir ablehnen, umgehen wir es. Wie ein Fluss, der nicht wieder und wieder um dieselbe Schleife fließen will, sodass er eines Tages einfach einen Durchbruch wagt und sich mit dem Flussabschnitt jenseits der Schleife verbindet. Die Schleife selbst wird zu einem kleinen unverbundenen See, einem Reservoir der Erinnerung, das aus Mangel an Nachschub irgendwann austrocknet.«
    »Er hat es vergessen?«
    »Er hat es geleugnet. Für ihn ist es nie geschehen. Er hat mich angesehen, als wäre ich verrückt.«
    »Selbst nach dem Tod Ihrer Mutter und der Einweisung Ihrer Schwester nach San Juan de Dios?«
    »Das war 1995. Er war schon mit Consuelo verheiratet. Er hatte ein anderes Leben. Die Vergangenheit war genauso weit entfernt für ihn wie … wie ein früheres Leben.«
    »Waren Sie von Consuelo überrascht?«
    »Von ihrem Aussehen?«, fragte er. »Mein Gott, ich war völlig perplex. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich habe ihr Hochzeitsfoto verbrannt.«
    »Das heißt, Ihr Vater hat Ihnen damals nicht weitergeholfen?«
    »Nur insofern, als ich erkannte, dass das, was ich wissen zu müssen glaubte, unwichtig war. Soweit ich erkennen konnte, gab es in der Welt meines Vaters nichts, was für ihn wertvoller hätte sein können als das Leben eines Kindes. Sein Geständnis lag in seinem Schweigen, in seinem entschiedenen Leugnen, in dem ganzen Ausdruck seines Lebens … in dieser Ehe mit einer Doppelgängerin seiner ersten Frau …«
    »War das nicht vielleicht eher eine Art Folter?«
    Jiménez schnaubte verächtlich. »Wenn Sie den Trost einer schönen Frau für eine Strafe halten … dann ja.«
    »Sie meinen, er hätte Tabula rasa gemacht und ein neues Leben

Weitere Kostenlose Bücher