Der Blinde von Sevilla
vermute, das Ganze hatte einen kriminellen Hintergrund. Eine ernsthafte Ermittlung von Arturos Entführung hätte wohl Enthüllungen nach sich gezogen, die meinen Vater vermutlich ruiniert und ihn wahrscheinlich auch ins Gefängnis gebracht hätten. Es hatte offensichtlich etwas mit seinen schmutzigen Geschäften in Tanger zu tun. Vielleicht gab es auch einen moralischen Aspekt, ein widerwärtiges Fehlverhalten, das seine Frau ihm nie verziehen hätte. Ich weiß es nicht. Wie auch immer, mein Vater muss sich auf seine eigene seltsame Art gedacht haben, dass Arturo bereits wenige Stunden nach seiner Verschleppung in Nordafrika oder auf einem Schiff dorthin sein würde. Er muss es in seinem monströsen Verstand abgewogen und entschieden haben, dass die Polizei keine Chance hatte, und er auch nicht.
Die Botschaft der Entführer war klar. Dies ist der Preis für das, was du getan hast. Und nun hast du die Wahl. Mach dich auf die Suche nach ihm und ruiniere dich selbst, oder akzeptiere den hohen Preis und mach weiter. Finden Sie nicht, dass die perfide Perfektion dieser Alternative das Wesen des absolut Bösen verkörpert? Sie haben ihn gefragt: Willst du das Gute oder das Böse umarmen? Wenn du ein guter Mensch bist, wirst du deinen Sohn suchen, alles in deiner Macht Stehende unternehmen und dich selbst vollständig zerstören. Du wirst im Exil oder Gefängnis leben. Deine Familie wird zerstört. Und … darin liegt das eigentliche Grauen, Inspector Jefe, du wirst Arturo trotzdem nicht zurückbekommen. Ja, das war es. So habe ich es mir erklärt. Sie haben ihn gezwungen, das Böse zu umarmen, und nachdem er das getan hatte, musste er zu den Mitteln des Teufels greifen, um zu überleben. Er hat sich und uns eingeredet, dass Arturo nie existiert hat. Er hat ihn ausgelöscht und uns mit ihm. Er hat uns gezwungen, den Verlust auf seine Art zu bewältigen, und damit alles zerstört. Seine Frau und seine Familie. Und das muss seine allerletzte Berechnung gewesen sein: Vorausgesetzt, Arturo ist verloren und meine Familie zerstört, egal was ich tue, was ist dann für mich die bessere Alternative?«
Jiménez hob die Hand, als würde er ein Gewicht prüfen, und sagte: »Das federleichte ethisch Gute und Richtige?«
Er hob die andere Hand und ließ sie krachend wieder auf den Schreibtisch fallen.
»Oder das goldene Gewicht von Macht, Rang und Reichtum?«
Schweigend erwogen beide Männer dieses Ungleichgewicht.
»Ich dachte immer«, sagte Falcón in die Stille, und die Ledereinbände in den Bücherregalen schienen seine Worte zu schlucken, »dass wir der Ära der Tragödie entwachsen sind und in einem Zeitalter leben, in dem es keine tragischen Gestalten mehr geben kann. Wir haben keine Könige oder großen Krieger, die aus so großer Höhe so tief fallen können. Heutzutage bewundern wir Schauspieler, Sportler oder Geschäftsmänner, denen das Tragische irgendwie abhanden gekommen ist und trotzdem … Ihr Vater. Er kommt mir vor wie ein seltenes Tier … die tragische Figur der Moderne.«
»Ich wünschte bloß, das Stück wäre nicht mein Leben gewesen«, erwiderte Jiménez.
Falcón stand auf, um zu gehen, und sah seinen unangerührten, kalten Kaffee an der Schreibtischkante stehen. Er schüttelte Jiménez länger als gewöhnlich die Hand, um ihm seine Wertschätzung zu zeigen.
»Deswegen musste ich Sie auch zurückrufen«, sagte Jiménez. »Ich musste erst mit meinem Analytiker sprechen.«
»Mussten Sie ihn um Erlaubnis fragen?«
»Ich musste ihn fragen, ob ich seiner Meinung nach bereit bin. Er hielt es für eine gute Idee, dass der einzige andere Mensch, der meine Familiengeschichte je zu hören bekommen wird, ein Polizist ist.«
»Sie meinen, weil ich handeln würde?«
»Weil Sie zur Verschwiegenheit verpflichtet sind«, sagte der Anwalt ernst.
»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Consuelo nichts von all dem erzählen würde?«
»Würde es irgendeinem anderen Zweck dienen, als sie zu Tode zu erschrecken?«
»Sie hat drei Kinder mit Ihrem Vater.«
»Ich konnte es zunächst nicht glauben.«
»Wie haben Sie es erfahren?«
»Mein Vater hat mir jedes Mal eine Karte geschickt, wenn eins geboren worden war.«
»Sie hat mir erzählt, dass er ein geradezu zwanghaftes Sicherheitsbedürfnis hatte. Er hat eine außerordentlich massive Tür in der Wohnung einbauen lassen und dafür gesorgt, dass sie jeden Abend abgeschlossen wurde.«
Jiménez starrte auf seinen Schreibtisch.
»Sie hat mir noch etwas erzählt, was Sie
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