Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
reißen würde. Sie haben uns Arturo genommen. Sie haben ihn eines Tages einfach mitgenommen, und wir haben nie wieder von ihm gehört.«
    Jiménez blinzelte mehrmals rasch hintereinander, als hätte er sich im Ödland seiner Verständnislosigkeit verirrt.
    »Sie meinen, man hat ihn entführt?«
    »Auf ihrem eigenen Schulweg hat Marta Arturo auch immer zu seiner Schule gebracht. Und auf dem Rückweg hat sie ihn wieder abgeholt. Eines Tages war er nicht da, und er war auch nicht zu Hause. Wir haben in der ganzen Stadt nach ihm gesucht, bis meine Mutter meinen Vater schließlich auf der Baustelle angerufen hat. Arturo war damals sechs. Fast noch ein Kleinkind. Und sie haben ihn uns genommen.«
    Jiménez starrte auf die Familienfotos, als ob ihr Glanz von einer vergifteten Erinnerung getrübt wäre. Seine Unterlippe zitterte, und sein Adamsapfel zuckte auf und ab.
    »Hat die Polizei irgendetwas in Erfahrung bringen können?«, fragte Falcón.
    »Nein«, hauchte Jiménez gespenstisch.
    »Wenn ein Kind vermisst wird, läuft normalerweise …«
    »Die Polizei hat nichts herausgefunden – aus dem einfachen Grund, dass man ihr keine Information gegeben hat.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    Jiménez beugte sich mit hervorquellenden Augen über den vernehmlich ächzenden Schreibtisch.
    »Mein Vater hat die Entführung gemeldet und erklärt, das Ganze wäre ihm ein Rätsel, und binnen 24 Stunden hatten wir Almería verlassen«, sagte Jiménez. »Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass er Angst hatte, dass diese Leute erneut zuschlagen könnten, oder weil er unangenehmen Fragen der Behörden aus dem Weg gehen wollte oder an beidem. Jedenfalls haben wir Almería verlassen und zwei Wochen in einem Hotel in Malaga gewohnt. Ich war mit Marta zusammen, die sich völlig in sich zurückzog und nie wieder ein Wort gesprochen hat. Im Nebenzimmer schrien sich meine Mutter und mein Vater an … all die Tränen … Mein Gott, es war schrecklich. Dann hat er uns alle nach Sevilla verfrachtet. Wir haben eine Wohnung in Triana gemietet und sind dann noch im selben Jahr an die Plaza de Cuba gezogen. Mein Vater musste noch ein paar Mal zurück nach Almería, um irgendwelche Geschäfte abzuwickeln und vor den Behörden auszusagen, und das war das Ende von Arturo.«
    »Aber was hat er Ihnen, Ihrer Familie gesagt? Wie hat er Arturos Verschwinden und seine bizarre Reaktion erklärt?«
    »Gar nicht. Er hat uns durch seine vulkanartigen Wutausbrüche klar gemacht, dass wir Arturo alle miteinander vergessen sollten … dass Arturo nicht existierte.«
    »Und die Entführer? Wollen Sie etwa sagen, dass es keinerlei Forderungen gab?«
    »Sie haben mich nicht verstanden, Inspector Jefe«, sagte Jiménez und schob beschwörend die Hände über den Tisch. »Es gab keine Forderungen. Das war ihr Preis. Arturo war ihr Preis.«
    »Sie haben Recht. Das verstehe ich nicht. Das verstehe ich überhaupt nicht.«
    »Willkommen im Club. Meine tote Mutter, meine verrückte Schwester und ich haben es auch nicht verstanden«, sagte Jiménez. »Beim Umzug von Almería nach Sevilla haben wir jede Spur von Arturo verloren. Kein Beweis für seine Existenz kam mit uns an. All seine Fotos, Kleider, Spielsachen, sogar sein Bett, alles war verschwunden. Mein Vater hat die Familiengeschichte umgeschrieben und Arturo gestrichen. Als wir in die Wohnung an der Plaza de Cuba gezogen waren, waren wir wie lebende Tote. Meine Mutter hat den ganzen Tag aus dem Fenster auf die Straße gestarrt und ist jedesmal fast gegen die Scheibe gesprungen, wenn ein kleiner Junge vorbeiging. Meine Schwester blieb stumm und musste von der Schule genommen werden. Ich hielt mich möglichst wenig zu Hause auf. Ich habe mich verloren … mit neuen Freunden, die mich nie als den Jungen kennen würden, der einmal einen kleinen Bruder gehabt hatte.«
    »Sie haben sich verloren?«
    »Ja, ich glaube, genau das ist mit mir geschehen. Ich war eigenartig unfähig, mich an irgendetwas vor meinem 15. Lebensjahr zu erinnern. Die Erinnerungen der meisten Menschen gehen zurück bis in die Zeit, als sie drei oder vier waren, manchmal sogar noch weiter bis in die Kleinkindzeit. Ich hatte nichts Konkretes, nur vage Andeutungen, schattenhafte Umrisse davon, wer ich gewesen war … bis vor ein paar Jahren.«
    Falcón überlegte, was seine früheste Erinnerung war, und kam nicht viel weiter als bis zum Frühstück vom Vortag.
    »Und Sie haben keine Ahnung, warum Ihr Vater diese verheerende Entscheidung getroffen hat?«
    »Ich

Weitere Kostenlose Bücher