Der Blinde von Sevilla
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Jiménez hob müde den Kopf. In seinen Augen flackerte vage Angst auf. Er wollte nicht noch etwas hören, was eine weitere Revision seiner mühsam neu zusammengesetzten Sicht der Dinge erfordern könnte. Falcón zuckte die Achseln.
»Sagen Sie es mir«, forderte Jiménez ihn auf.
»Erstens glaubt sie, dass ihr Mann, der gesellige Restaurantbesitzer mit all den Fotos lächelnder Menschen an der Wand, zutiefst unglücklich war.«
»Dann hat es ihn am Ende also doch eingeholt«, sagte Jiménez ohne Befriedigung. »Aber wahrscheinlich wusste er nicht, was es war.«
»Das Zweite ist ein Detail seines Testaments. Er hat seiner bevorzugten Wohlfahrtseinrichtung eine große Summe Geldes hinterlassen. Nuevo Futuro – Los Niños de la Calle. «
Jiménez schüttelte den Kopf, obwohl schwer zu sagen war, ob in Trauer oder Leugnung. Er kam um den Schreibtisch und hielt Falcón die Tür auf, schleppte sich erneut mit hängenden Schultern den Flur hinunter, und Falcón fragte sich, ob er vor der Analyse anders gegangen war. Jiménez half Falcón in den Mantel. Eine einzige unbeantwortete Frage störte Falcóns Seelenfrieden noch, und er fragte sich, ob er sie stellen konnte.
»Haben Sie je daran gedacht«, sagte er schließlich doch, »dass Arturo noch leben könnte? Er wäre jetzt 42.«
»Früher schon«, sagte Jiménez. »Aber mir geht es besser, seit ich die Endgültigkeit des Geschehenen akzeptiert habe.«
10
Freitag, 13. April 2001, AVE von Madrid nach Sevilla
Selbst der späte AVE, der erst nach Mitternacht in Sevilla ankommen würde, war voll besetzt. Während der Zug durch die kastilische Nacht raste, strich Falcón die Krümel eines bocadillo de chorizo von seinem Schoß und starrte durch das transparente Spiegelbild seines Gegenübers aus dem Fenster. Nachdem er so tief in die Geschichte der Familie Jiménez eingedrungen war, war sein Verstand gleichzeitig erschöpft und aufgekratzt.
Um 15 Uhr hatte er José Manuel Jiménez beim Abschied gefragt, ob jener etwas dagegen hätte, wenn er seine Schwester Marta in der psychiatrischen Klinik San Juan de Dios in Ciempozuelos, 40 Kilometer südlich der Stadt, besuchen würde. Der Anwalt warnte ihn, dass es vermutlich kein besonders produktives Treffen werden würde, versprach jedoch, Falcóns Besuch anzukündigen. Jiménez hatte Recht gehabt, dachte Falcón jetzt, jedoch aus anderen als den vermuteten Gründen. Marta war gestürzt.
Falcón hatte sie in der Unfallstation getroffen, wo man ihr mit mehreren Stichen eine Wunde an der Augenbraue genäht hatte. Sie war aschfahl, was jedoch ebenso gut ihre normale Gesichtsfarbe hätte sein können. Ihr Haar war schwarz mit weißen Strähnen und zu einem Dutt hochgesteckt. Ihre Augen lagen tief in ihren grauen Höhlen über violetten Viertelkreisen, die sich bis zu ihren Wangenknochen erstreckten. Es hätten Blutergüsse von dem Sturz sein können, sie wirkten jedoch dauerhafter.
Ein marokkanischer Pfleger saß bei ihr, hielt ihre Hand und murmelte halb Spanisch, halb Arabisch auf sie ein, während eine Ärztin die Wunde an ihrer Augenbraue nähte, die heftig blutete und den weißen Kittel der Ärztin bespritzt hatte. Während der Operation klammerte Marta sich die ganze Zeit an ein Objekt, das an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Falcón vermutete, dass es ein Kreuz war, doch als sie es schließlich losließ, erkannte er, dass es ein goldenes Medaillon und ein kleiner Schlüssel waren.
Er begleitete den Pfleger, als der Marta im Rollstuhl zurück auf ihre Station brachte, auf der fünf weitere Frauen untergebracht waren. Vier schwiegen, während die fünfte permanent etwas vor sich hin murmelte, was sich von weitem wie ein Gebet anhörte, sich jedoch beim Näherkommen als ein Schwall von Flüchen entpuppte. Der Marokkaner stellte Martas Rollstuhl ab, ging zu der Frau, fasste ihre Hand und rieb ihr den Rücken, bis sie sich beruhigte.
»Der Anblick von Blut regt sie jedes Mal auf«, erklärte er.
Sein Name war Ahmed, und er hatte einen Abschluss in Psychologie von der Universität Casablanca. Seine Leutseligkeit gefror spürbar, als Falcón ihm seinen Dienstausweis zeigte.
»Aber was wollen Sie hier ?«, fragte Ahmed. »Diese Leute gehen nicht aus. Sie sind Dauerbewohner, die oft nicht einmal zu den einfachsten Dingen imstande sind. Jenseits der Tore ist für sie genauso weit weg wie ein anderer Planet.«
Falcón betrachtete Martas schwarz-weiß meliertes Haar, das weiße Pflaster
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