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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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über ihrer Braue und spürte unvermittelt eine große Traurigkeit, weil er wusste, dass er das eigentliche Opfer der Jiménez-Tragödie vor sich hatte.
    »Versteht sie irgendetwas von dem, was wir reden?«, fragte er.
    »Kommt drauf an«, sagte er. »Wenn wir über K-A-T-Z-E-N sprechen, reagiert sie vielleicht.«
    »Was ist mit A-R-T-U-R-O?«
    Ahmed setzte eine nichts sagende bis argwöhnische Miene auf, die Falcón von den festgenommenen Immigranten aus der Jefatura kannte. Nichts sagend, um den Beamten möglichst nicht zu verärgern, argwöhnisch, um zu neugierige Fragen abzuwehren. Das funktionierte vielleicht bei der marokkanischen Polizei, Falcón machte es wütend.
    »Ihr Vater ist ermordet worden«, sagte er leise.
    Marta hustete einmal, zweimal, und beim dritten Mal folgte ein Schwall von Erbrochenem, der sich in ihrem Schoß sammelte und zu Boden tropfte.
    »Sie steht nach dem Sturz noch unter Schock«, sagte Ahmed und ging weg.
    Falcón blickte in Martas Gesicht. An einzelnen Härchen an ihrem Kinn klebte Erbrochenes. Sie sah ihn keuchend an, das Schloss an ihrer Kette immer noch fest umklammert. Ahmed kam mit frischer Kleidung und einem Putzwagen zurück und führte Marta hinter einen Vorhang. Falcón nahm auf der anderen Seite des Raumes Platz und sah sich wartend um. Dabei entdeckte er unter Martas Bett eine Truhe mit einem kleinen Vorhängeschloss.
    Der Vorhang wurde wieder aufgezogen, und Marta erschien frisch gekleidet. Falcón stellte sich neben Ahmed.
    »Haben Sie je mit ihr über Arturo gesprochen?«
    »Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin zwar dafür ausgebildet, aber nur in meinem Land. Hier bin ich ein Pfleger. Nur der Arzt redet mit ihr über Arturo.«
    »Waren Sie je dabei?«
    »Außerhalb meiner Dienstzeit.«
    »Wie hat sie auf den Namen reagiert?«
    Ahmed erledigte beim Reden automatisch seine Putzarbeiten.
    »Sie wird sehr erregt. Sie schlägt die Hand vor den Mund und stößt eine Art verzweifelt flehendes Geräusch aus.«
    »Artikuliert sie ganze Worte?«
    »Sie spricht nicht.«
    »Aber Sie verbringen mehr Zeit mit ihr, vielleicht verstehen Sie sie besser als der Arzt.«
    »Sie sagt: ›Ich war es nicht. Es war nicht meine Schuld.‹«
    »Wissen Sie, wer Arturo ist?«
    »Ich habe ihre Krankenakte nicht gesehen, und niemand hat sich dazu herabgelassen, mich über die Details ihres Falles zu informieren.«
    »Wer ist der behandelnde Arzt?«
    »Dr. Azucena Cuevas. Sie ist bis nächste Woche in Urlaub.«
    »Was ist mit dem Kätzchen? Waren Sie nicht derjenige, der das Kätzchen mitgebracht hat, woraufhin sie …«
    »Auf der Station sind keine Katzen erlaubt.«
    »Das Schloss und der Schlüssel um ihren Hals – ist das der Schlüssel zu der Truhe unter ihrem Bett? Wissen Sie, was sie darin aufbewahrt?«
    »Diese Menschen haben nicht sehr viel, Inspector Jefe. Wenn ich etwas Privates sehe, lasse ich es ihnen. Es ist alles, was sie haben bis auf … ihr Leben. Und es ist erstaunlich, wie lange man überleben kann, wenn das alles ist, was man hat.«
    Ahmed. Ein absolut intelligenter, vernünftiger und mitfühlender Mensch, aber nicht besonders redselig, besonders nicht vor der Obrigkeit. Er hatte Falcón verärgert. Während vor den Fenstern des AVE die schwarze Nacht vorbeirauschte, versuchte er, sich sein Gesicht vor Augen zu rufen. Doch anders als mit José Manuel Jiménez’, dessen gequälte Züge ihm sofort messerscharf vor Augen standen, gelang es ihm bei Ahmed nicht – weil der Marokkaner getan hatte, was alle Einwanderer taten. Er hatte sich der Umgebung angepasst, war ganz und gar unauffällig mit seinem grauen Hintergrund verschmolzen und in der modernen spanischen Gesellschaft verschwunden.
    Sein Gedankenfluss stockte, als er bemerkte, dass das transparente Spiegelbild der Frau auf dem Sitz gegenüber seinen Blick erwiderte. Es gefiel ihm, müßig vor sich hin zu starren, als würde er lediglich die vorbeifliegende Nacht betrachten. Ein Funken von Begehren erwachte in ihm. Seit Inés ihn verlassen hatte, war er enthaltsam gewesen. Ganz am Anfang ihrer Beziehung war ihr Sex beinahe orgiastisch gewesen, und schon der Gedanke daran ließ ihn an seinem Kragen nesteln. Wenn sie im Hof gegessen hatten, hatte sich Inés manchmal ganz plötzlich rittlings auf ihn gesetzt, an seiner Hose gezerrt und seine Hände unter ihr Kleid geschoben. Wohin war all das verschwunden? Wie hatte die Ehe diese Leidenschaft so schnell ersticken können? Am Ende hatte sie ihn nicht einmal mehr zusehen

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