Der Blinde von Sevilla
lassen, wenn sie sich anzog. »Du hast kein Herz, Javier Falcón.« Wovon redete sie? Verkehrte er mit Prostituierten und sah sich dabei Pornos an? Würde er die Existenz seines eigenen Kindes leugnen? Und doch … Raúl Jiménez hatte trotz alledem die Gesellschaft einer schönen Frau gehabt; Consuelo, seine Trösterin.
Die Frau gegenüber erwiderte seinen Blick nicht mehr, und er sah sie direkt an. In ihren Augen erkannte er einen Hauch von Entsetzen, eine Spur von Mitleid, als spürte sie die Kompliziertheiten eines Mannes mit Mitte 40 und wollte nichts davon wissen. Sie beschäftigte sich mit ihrer Handtasche, als wollte sie darin verschwinden, obwohl es nur ein kleines Balenciaga-Täschchen war mit Platz für einen Lippenstift, zwei Kondome und ein paar Scheine. Er wandte den Blick wieder zum Fenster. In weiter Ferne schwebte einsam ein kleines Licht in der Dunkelheit.
Erschöpft von seinen endlos kreisenden Gedanken, nicht nur über seine Ermittlung, sondern vor allem auch über seine gescheiterte Ehe, ließ er sich in den Sitz zurücksinken, weil er jedes Mal eine Art inneren Zusammenbruch erlitt, wenn er auf diese Wand aus Worten stieß: »Du hast kein Herz, Javier Falcón« – » No tienes corazón , Javier Falcón.« Es reimte sich sogar.
Etwas wurde ihm nun bewusst: Er würde nicht weiterkommen, er würde nicht mit einer Frau in einem Eisenbahnabteil flirten können, bis er sich selbst bewiesen hatte, dass Inés’ Worte falsch waren, dass sie nicht zutrafen.
Er döste ein, ein Mann in einem silbernen Schnellzug, der durch die Dunkelheit auf ein unbekanntes Ziel zuraste. Wieder träumte er, ein Fisch zu sein, der angstvoll durchs Wasser flitzte und mit dem Schwanz gegen das Zerren in seinen Eingeweiden anschlug. Er wachte auf, als er mit dem Kopf gegen das Sitzpolster schlug. Das Abteil war leer, der Zug stand im Bahnhof, und die Passagiere drängten sich scharenweise an seinem Fenster vorbei.
Er ging nach Hause, sah sich einen Film an, ohne irgendetwas mitzubekommen, und sank danach hungrig und aufgewühlt auf sein Bett. Er schlief unruhig und schreckte immer wieder hoch, weil er weder erneut diesen Traum träumen noch im Bewusstsein der gierigen Welt vor seinem Tor wach liegen wollte. Um vier Uhr akzeptierte er endgültig die schlaflose Nacht, lag dort und und sorgte sich um sein geistiges und seelisches Gleichgewicht, während die Holzbalken in seinem riesigen Haus dazu ächzten und stöhnten wie die Insassen eines abgelegenen Flügels der Nervenklinik.
Samstag, 14. April 2001
Um sechs Uhr stand er unausgeruht auf, seine Nerven klimperten wie Schlüssel am Ring eines Gefängniswärters – ein Bild, das ihn unwillkürlich an die Schlüssel zum Atelier seines Vaters denken ließ. Also ging er ins Arbeitszimmer und stellte fest, dass eine der Schreibtischschubladen voller Schlüssel war. Konnte das Haus so viele Türen haben? Er nahm die ganze Schublade mit zu dem schmiedeeisernen Tor, das die Galerie vor dem Atelier seines Vaters versperrte. Dort probierte er jeden einzelnen Schlüssel aus, doch keiner passte, schließlich gab er die Sache auf und ließ die Schlüssel neben der Schublade auf dem Boden verstreut liegen.
Dann duschte er, zog sich an, verließ das Haus, kaufte sich eine Zeitung und trank einen café solo. Er überflog die Todesanzeigen. Raúl Jiménez sollte an diesem Tag um elf Uhr auf dem Cementerio de San Fernando bestattet werden.
Im Büro war die Grupo de Homicidios mit sechs Beamten komplett zum Dienst erschienen, was am Karsamstag sonst unüblich war. Falcón unterrichtete sie kurz über das Gespräch mit Calderón und schickte Pérez und Fernández auf das Feria-Gelände gegenüber des Edificio Presidente, Baena auf die Straßen um den Wohnblock; Serrano sollte eine Liste von Labors und pharmazeutischen Großhändlern abarbeiten, denen ein ungewöhnlicher Käufer von Chloroform oder der Diebstahl von chirurgischen Instrumenten aufgefallen sein könnte. Die vier Männer gingen, machten sich an die Arbeit; nur Ramírez blieb mit verschränkten Armen ans Fenster gelehnt zurück.
»Sonst noch was, Inspector Jefe?«, fragte er.
»Haben wir eine Aussage von Marciano Ruíz, dem Regisseur?«
Ramírez wies mit dem Kopf auf den Schreibtisch und sagte, sie enthielte keine Neuigkeiten. Falcón las die Aussage trotzdem, nur um Ramírez nicht von seinem Ausflug nach Madrid und dem Familiendrama der Jiménez berichten zu müssen. Es hätte mehr mit dem aktuellen Mord zu tun haben
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