Der Blinde von Sevilla
versuchte, in ihn hineinzublicken und den Federn und Rädchen seines Gehirns bei der Arbeit zuzusehen. Salgado drehte sein Glas am Stiel hin und her und hinterließ einen runden Abdruck auf dem Fassdeckel. Er sah traurig aus, so wie er es immer tat. Und undurchdringlich hinter seinem Panzer aus weltgewandter Urbanität.
»Ich muss darüber nachdenken, Ramón«, sagte er. »Es ist schließlich kein gewöhnliches Geschäft.«
12
Samstag, 14. April 2001, Jefatura,
Calle Blas Infante, Sevilla
Falcón und Ramírez saßen im Vernehmungszimmer der Jefatura, während ein jüngerer Beamter, der sich mit der Technik auskannte, die Videokamera an den Fernseher anschloss. Ramírez fragte nach dem alten Mann auf dem Friedhof.
»Ramón Salgado, der Galerist meines Vaters.«
»Er sah nicht so aus, als hätte er die Kraft, Jiménez aus seinem Stuhl zu heben«, sagte Ramírez, »oder auch nur eine Leiter hinaufzuklettern.«
»Er ist außerdem Kunsthistoriker, der gelegentlich Vorlesungen an der Universität hält, zu denen keiner kommt. Er hat eine Galerie in der Calle Zaragoza in der Nähe der Plaza Nueva. Einige einflussreiche Leute gehen nach wie vor dorthin, darunter Señora Jiménez und ihr Mann.«
»Er sah aus, als wüsste er, wie man den Leuten das Geld aus der Tasche zieht.«
»Wir haben über Schwarzgeld in der Gastronomie geredet. Er hat auch kurz die Expo ’92 erwähnt, was er meiner Ansicht nach gar nicht wollte. Außerdem hat er mir Informationen angeboten.«
»Aber er hat Ihnen nichts erzählt?«
Wieder hatte Falcón das Gefühl, einer Prüfung unterzogen zu werden.
»Ich kenne Ramón Salgado«, sagte er. »Äußerlich ist er ein erfolgreicher Geschäftsmann – Geld, großes Auto, ein Haus in El Porvenir, einflussreiche Kunden – doch in seinen eigenen Augen ist er ein Versager. Er hat nie etwas mit so viel Hingabe betrieben wie die Betreuung der Künstler, die er vertritt. Er doziert vor leeren Hörsälen. Er hat zwei Bücher geschrieben, die akademisch und kommerziell erfolglos geblieben sind.«
»Und was will er im Austausch für die Informationen?«, fragte Ramírez.
»Etwas Privates … es hat mit meinem Vater zu tun. Allerdings möchte ich es ihm nicht geben und dann nur Klatsch dafür bekommen.«
»Für Klatsch gibt es einen Riesenmarkt«, meinte Ramírez.
»Sie waren noch nie auf einer Vernissage, oder, Inspector? Es wimmelt von Menschen, die so tun, als wüssten sie mehr, als sie wissen, als wären sie die Einzigen, die die Wahrheit eines Kunstwerkes erkennen könnten, und dann … versuchen sie, es in Worte zu fassen.«
»Das ist Quatsch, kein Klatsch.«
»Das sind Leute, die dort sein wollen, wo ›es‹ passiert. Sie wollen ›es‹ berühren. Und sie wollen einem davon erzählen.«
»Und was ist ›es‹?«, fragte Ramírez.
»Genie«, sagte Falcón.
»Die Reichen sind nie mit dem zufrieden, was sie haben, oder?«, fragte Ramírez. »Selbst die Typen aus dem Barrio, die es geschafft haben, sind nicht glücklich damit. Sie wollen zurückkommen, dir ihren Erfolg den ganzen Abend lang in den Rachen stopfen und am Ende immer noch dein Freund sein.«
»Mein Vater hat es auch nie verstanden, und er war selbst reich«, sagte Falcón. »Er hat es verachtet.«
»Was?«, fragte Ramírez, der glaubte, dass sie immer noch vom Genie sprachen.
»Raffgier.«
»Bestimmt«, sagte Ramírez sarkastisch und griff nach seinen Zigaretten. Er wusste, dass der alte Falcón ein Vermögen gemacht und hinterlassen hatte. Wenn er die Raffgier verachtet hatte, dann hatte der alte cabrón auch sich selbst verachtet.
Endlich war die Anlage startbereit, und sie wandten sich dem Bildschirm zu. Nach weißem Rauschen plötzlich das erste Bild, der stille Friedhof, die Zypressen entlang des Weges, die um das Mausoleum versammelten Trauergäste.
Falcóns Gedanken schweiften zu Salgado, seinem Vater, dem unaufgeräumten Atelier und der seltsamen Bitte. Salgado war es gewesen, der seinem Vater zum Durchbruch verholfen hatte, weshalb dieser seine spezielle Verachtung für ihn nur im engsten Kreis geäußert hatte. Salgado hatte die Ausstellung in Madrid auf die Beine gestellt, auf der Anfang der 60er Jahre der erste Falcón-Akt verkauft worden war. Die europäische Kunstwelt war aus dem Häuschen gewesen. Mit dem Geld hatte sein Vater das Haus in der Calle Bailén erworben.
Auf der Basis dieser strahlenden, aber regional begrenzten Berühmtheit hatte Salgado eine Ausstellung in New York organisiert. Während der
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