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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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er dem Mädchen mit den üblichen Erklärungen seine Karte. Sie nahm sie mit zitternden Fingern entgegen, wusste wohl, was all das zu bedeuten hatte.
    Sein Versagen hatte ihn wütend gemacht. Er verließ die Alameda und lief die Calle Amor de Dios hinauf. Trotz seiner scheinbar entschlossenen Schritte bog er in dem Straßengewirr ziellos links und rechts ab, bis ihm der Gestank von Katzenpisse entgegenschlug. Die Gasse wurde noch enger, bevor sie sich an einer Kirche namens Divina Enfermera zu einem kleinen Platz erweiterte. Die göttliche Krankenschwester? Hier war er mit seinem Vater auf dem Weg zu dem Kopisten vorbeigekommen. Vor der Divina Enfermera hatte sein Vater einen schmutzigen Witz gemacht und ihm die heiligen Schwestern bei der Arbeit gezeigt. 65-jährige Frauen, die mit gespreizten Beinen vor ihren Häusern saßen. Angewidert hatte Javier beobachtet, wie sein Vater endlos über eine Blasnummer verhandelt hatte, bis er es nicht mehr ausgehalten hatte und zur nächsten Straßenecke gelaufen war, wo er unter einer gekachelten Reklame für Amontillado fino und Manzanilla pasada gewartet hatte.
    Die Straßennamen glitten an ihm vorüber, bis er in San Juan de Palma landete, wo sich unter den beiden großen Palmen Menschen drängelten, die mit einem Bier in der Hand aus der Cervezería Plazoleta strömten. Es war so leicht, sich in dieser Stadt einsam zu fühlen. Er ging an der Villa der Duquesa de Alba vorbei, wo er einmal unter den schwankenden Türmen aus wuchernder Bougainvillea gestanden und mit der High Society Nektar getrunken hatte. Fühlten sich Penner auch so? Ich werde ein Vagabund meiner selbst.
    Eine Brise trocknete den Schweißfilm auf seiner Stirn. Er hatte nicht bewusst nachgedacht, aus dem Nichts schienen ihn ungebetene Worte anzuwehen. Männliche Menopause. 45 Jahre alt. Midlife-Crisis. Und weiterer Mist aus Manuelas Zeitschriften. Nein, es war lediglich das unverfälschte Altern an sich, dessen Ausbruch von Kopf und Körper bemerkt worden war.
    Er rannte los, als könnte er so den Gedanken entfliehen, die sich in seinem Kopf sammelten. Als er die Calle Matahacas erreichte, sah er die Menge aus dem Dunkel auftauchen und spürte die tiefe, ehrfürchtige Stille, die die Sevillanos nur zwei Dingen entgegenbringen – la Virgen und los toros.
    In der Escuelas Pías am Ende der Straße tauchte aus einem wogenden Meer schwarzer Köpfe die von Kerzen beschienene Jungfrau auf. Ihr gesenkter Kopf, die weißen, mit Edelsteinen besetzten Gewänder und ihre tränenüberströmten Wangen verschwammen in Schwaden aufsteigenden Weihrauchs. Die Ehrfurcht der zu ihren Füßen versammelten Menschheit schwappte ihr entgegen, als ihr paso in der Dunkelheit hin und her schwankte.
    Die Leute hinter Falcón drängten ihn weiter auf diese verblüffende Vision der Schönheit zu, die ihn gleichermaßen faszinierte, einschüchterte und zutiefst verängstigte. Die Menge vor ihm wurde dichter. Kleine Frauen, die ihm fast nur bis zur Hüfte reichten, murmelten Gebete und küssten ihren Rosenkranz. Er war jetzt in dieser bizarren Parallelwelt gefangen. Die Alameda mit ihren Huren, grunzenden Freiern und Junkies führte ein anderes Leben, ein Leben voller Blut und Dreck, weit jenseits dieser hohen, kathedralenartigen Stille mit ihrer verletzenden Schönheit, die auf einer Woge der Anbetung und Verehrung dahintrieb.
    Können wir alle zur selben Spezies gehören?
    Die Frage brachte ihn auf den Gedanken, dass es durchaus möglich war, dass Gut und Böse in ein und derselben Person existierten. Sogar in ihm. Panik schnürte ihm die Kehle zu. Er musste dieser Menschenmenge entkommen – und das ging nur nach vorn.
    Die Jungfrau blieb stehen und versank in der Dunkelheit. Der Kerzenschein auf ihrem Gesicht flackerte, erfasste die kristallisierten Tränen und ihre traurigen Augen. Er musste an ihr vorbei, vorbei an diesem furchtbaren Symbol des Verlustes, das der Grausamkeit der Welt einen prachtvollen Spiegel vorhielt. Er drängelte sich zwischen bußfertigen Frauen, stummen Müttern und Vätern mit schlafenden Kindern auf den Schultern hindurch.
    Von hinten gestoßen und geschlagen und mit dem Spott der anderen Passanten im Rücken, bahnte er sich rücksichtslos einen Weg, bis er gegen die Straßensperre stieß, sich darunter hindurchduckte und zwischen die stummen, ganz in Schwarz gekleideten nazareños mit ihren spitzen, in der Dunkelheit kaum auszumachenden Hüten lief. Ihre Blicke folgten ihm, dunkle Augen aus maskierten

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