Der Blinde von Sevilla
verebbt.
»Denk mal darüber nach«, sagt Oscar. »Wir sind hier nicht nur an der Front eines Bürgerkriegs, sondern an der Front eines Krieges des gesamten kulturellen gebildeten Spaniens oder vielleicht sogar des zivilisierten Europas. Was möchtest du in Zukunft malen? Yagüe zu Pferde? Den Erzbischof von Sevilla bei seiner morgendlichen Toilette? Oder möchtest du die Form des weiblichen Körpers neu definieren, die Perfektion in einer Linie der Landschaft entdecken? Oder die Wahrheit in einem Urinal finden?«
Wir schlagen uns bis zur Rückseite des Gebäudes durch und rennen im Schutz des Santa Cristina Hospitals zur Uniklinik, um die Regulares zu unterstützen. Dort entdecken wir den zerstörten Fahrstuhl und seine Überreste auf dem Boden des Schachtes und stürmen die Treppe hinauf. In einem der Labors finden wir sechs tote Regulares ohne jede Spur von Einschüssen oder einer Explosion. Auf dem Boden schwelt ein Feuer, und ein Geruch von geröstetem Fleisch hängt in der Luft. Um uns herum sind Tiere in Käfigen, und wir erkennen, dass die Mauren einige von ihnen geschlachtet und gegrillt haben. Oscar schüttelt ob dieses bizarren Anblicks den Kopf. Wir steigen aufs Dach und blicken über das Gelände. Ich frage Oscar, was er denn eigentlich hier mache, und er antwortet bloß, dass er nirgendwohin gehöre. Er sei ein Außenseiter.
»Auf dich kommt es an«, sagt er, »du bist jung. Du musst dich entscheiden. Also … wenn du überlaufen willst, mach dir meinetwegen keine Sorgen, ich werde dir nicht in den Rücken schießen. Und ich werde in meinem Bericht anführen, dass du aus ästhetischen Gründen übergelaufen bist.«
Das hasse ich an Oscar, ständig versucht er, mich zu provozieren, damit ich denke und mich entscheide.
25. November 1936, am Stadtrand von Madrid
Wir haben den direkten Angriff auf Madrid abgebrochen. Jener entscheidende Monat, den wir geschützt in Toledo zugebracht haben, hat den Republikanern Zeit gegeben, sich neu zu organisieren. Wir könnten weiter unbarmherzig vorstoßen, doch der Preis würde zu hoch sein. Unsere Strategie ist jetzt eine andere. Wir werden das Umland überrennen und die Stadt belagern. Wir sind eine Armee, die zwischen den fortschrittlichen (Bombardement aus der Luft) und mittelalterlichen (Belagerung) Taktiken wechselt …
Im Laufe der vergangenen sechs Wochen sind die beiden Armeen gleich stark geworden. Die Linken haben jetzt russische Panzer, Flugzeuge und Männer aus der ganzen Welt, die in ihren Internationalen Brigaden kämpfen. Sie haben die Nachschubhäfen am Mittelmeer – Barcelona, Tarragona, Valencia. Vorher hat Oscar immer gesagt, das Ganze würde bis Weihnachten vorbei sein, jetzt denkt er, es wird Jahre dauern.
18. Februar 1937, bei Vaciamadrid
Wir sind wie befürchtet von der Straße zwischen Madrid und Valencia abgedrängt worden. Die Russen haben uns aus der Luft gnadenlos beschossen. Jetzt stecken wir in einem Patt fest und können nur abwarten, wie sich die Situation im Norden entwickelt. Also haben wir Zeit und glücklicherweise genug Kaffee- und Zigarettenvorräte. Oscar hat uns aus Patronenhülsen ein Schachspiel gebastelt, mit dem wir spielen. Das heißt, er bringt mir bei, mit Würde zu verlieren. Wir unterhalten uns, damit ich meine geringen Deutschkenntnisse erweitern kann.
»Warum bist du Nationalist?«, fragt er und zieht einen Bauern vor.
»Warum bist du es?«, entgegne ich und ziehe meinen Bauern gegen seinen.
»Ich bin kein Spanier«, sagt er und deckt seinen Bauern mit einem Springer. »Ich muss mich nicht entscheiden.«
»Ich auch nicht«, sage ich und sichere meinen Bauern mit einem zweiten ab. »Ich bin Afrikaner.«
»Deine Eltern sind Spanier.«
»Aber ich bin in Tétouan geboren.«
»Und das gibt dir das Recht, unpolitisch zu sein?«
»Es bedeutet, dass ich keinerlei Grundlage für eine politische Überzeugung habe.«
»War dein Vater ein Rechter?«
»Ich habe keinen Vater.«
»Aber war er ein Rechter?«
Ich antworte nicht.
»Was war er von Beruf?«
»Er war Besitzer eines Hotels.«
»Dann war er ein Rechter«, sagt Oscar. »Ist er zur Messe gegangen?«
»Nur um den Wein zu trinken.«
»Dann ist das deine Grundlage. Politik lernt man immer am Essenstisch.«
»Und dein Vater?«
»Er war ein Arzt.«
»Schwierig«, sage ich. »Ist er zur Messe gegangen?«
»Wir haben keine Messe.«
»Noch schwieriger.«
»Er war Sozialist«, sagt Oscar.
»Dann bist du auf jeden Fall am falschen Ort.«
»Ich habe
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