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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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ihn am 27. Oktober 1923 erschossen.«
    Ich blicke auf, doch er betrachtet weiter das Schachbrett.
    »Du bist in drei Zügen erledigt.«

    23. November 1937, Cogolludo bei Guadalajara
    Unsere Bandera ist aufgelöst und auf den Rest der Armee verteilt worden. Wir denken, dass man uns für einen neuen Angriffsversuch auf die Hauptstadt hier stationiert hat. Oscar redet nicht mit mir, weil ich meinen ersten Sieg an der schwierigsten aller Fronten errungen habe – auf dem Schachbrett.

    15. Dezember 1937, Cogolludo
    Die Linken haben uns mit einer Offensive gegen Teruel überrascht, als wir uns gerade auf den Sturm auf die Hauptstadt vorbereitet hatten, um Weihnachten auf der Gran Via zu feiern. Wir wissen nur, dass Teruel die kälteste Ortschaft Spaniens ist und dass in der belagerten Stadt 4000 Nationalisten festsitzen.

    31. Dezember 1937, bei Teruel
    Es herrscht eine brutale Kälte: -18 Grad. Schneesturm, eine ein Meter hohe Schneedecke. Ich hasse es. Ich schreibe dies unter Schwierigkeiten und nur, um mich von den schrecklichen Bedingungen abzulenken. Der Gegenangriff ist stecken geblieben, aber wir bombardieren weiter die Stadt, die nur noch ein schneebedeckter Trümmerhaufen ist. Als die Sicht gleich null ist, stellen wir das Bombardement ein.

    8. Februar 1938, Teruel
    Gestern haben wir einen neuen Angriff gestartet, um den Ring um die Stadt zu schließen. Die Gefechte sind heftig, und Oscar hat einen Bauchschuss erlitten. Wir müssen ihn in die hinteren Linien tragen. Ich habe seine Rolle als Unteroffizier übernommen.

    10. Februar 1938, Teruel
    Ich habe Oscar in einem Feldlazarett gefunden. Trotz des Morphiums leidet er furchtbare Schmerzen. Er weiß, dass er seine Verletzung nicht überleben wird. Er hat mir seine Bücher und das Schachspiel vermacht und die strikte Anweisung gegeben, seine Tagebücher zu verbrennen, ohne sie zu lesen. Er weint vor Schmerzen, und als er mich küsst, spüre ich seine warmen Tränen auf meinem Gesicht.

    23. Februar 1938, Teruel
    Heute Morgen haben wir Oscar begraben. Später habe ich seine Tagebücher verbrannt. Ich habe seine Anweisungen befolgt und das erste Buch ins Feuer geworfen, ohne es zu öffnen. Doch während es brannte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, durch die Seiten des nächsten Bandes zu blättern, in dem es ständig um eine Liebe ging, die er offenbar nicht ertragen konnte. Er hatte das Mädchen nie namentlich erwähnt, was mich nicht überraschte, weil wir mit Ausnahme des Gespräches, in dem er mir gestanden hat, seinen Vater erschossen zu haben, nie über persönliche Dinge gesprochen haben. Im dritten Band begann er, in imaginären Dialogen zu schreiben, was leichter zu verdauen war als seine trockene Prosa. Mich traf der Schlag, als ich meine eigenen Worte wieder entdeckte und zu dem elektrisierenden Schluss kam, dass ich die rücksichtslose Geliebte war. Die Vermutung bestätigte sich weiter, nachdem er mich, erzürnt durch eine achtlose Bemerkung meinerseits, Die Künstlerin zu nennen begann. Ich verbrannte die restlichen Bände, ohne sie zu lesen.
    Jetzt sitze ich hier, eine Kerze zwischen die Knie geklemmt. Mir kommt der Gedanke, dass Oscars ganzes Drängen, meine Gedanken aufzuschreiben, Ausdruck seiner verzweifelten Hoffnung war, ich könnte mich ihm offenbaren. Meine endlosen Betrachtungen militärischer Manöver müssen ihn sehr enttäuscht haben.
    Ich empfinde keinen Ekel, auch wenn Oscar körperlich abstoßend war. Ich bin traurig über den Verlust meines Freundes und Lehrers, des Mannes, der mir mehr Vater war als mein eigener. Ohne seine brutale Erscheinung, seinen scharfen Verstand und seine sichere militärische Führung bin ich wieder allein. Ich plage mich mit unverständlichen Gedanken. Irgendetwas in mir, das ich nur als formloses Bedürfnis erkennen kann, ist aufgestört worden. Ich verstehe es nicht, und es weigert sich, sich definieren zu lassen.

    25. April 1938, Lérida
    Ich bin durch einen Schlag ohnmächtig geworden und in das hiesige Krankenhaus gebracht worden, das wir, wie man mich erinnern musste, vor zwei Wochen eingenommen haben. Seit Oscars Beerdigung habe ich keine Einträge mehr gemacht. Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich mich seit dem Schlag nicht erinnern kann, ob ich mit meinen Gedanken Fortschritte gemacht habe. Dieses »Bedürfnis«, von dem ich geschrieben habe, ist eine Leerstelle in meinem Gehirn. Der Lauf der Ereignisse hat sich wieder in den Vordergrund gedrängt. Der gnadenlose Vormarsch,

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