Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
nachdem wir die Republikaner bei Teruel in die Flucht geschlagen haben. Die Überquerung des Ebro und die Einnahme von Fraga. Selbst an den Angriff auf Lérida kann ich mich vage erinnern. Doch sosehr ich meinen Verstand auch ausquetsche, kann ich das, was Oscars Tagebücher in mir angestoßen hatten, nicht wieder fassen. Ich fühle mich beraubt, ohne zu wissen, warum.

    18. November 1938, Ribarroya
    Dies ist der letzte republikanische Brückenkopf. Sie sind jetzt alle jenseits des Ebro, und die Situation ist wieder die gleiche wie im Juli, außer dass es jetzt schneit und in den Bergen mehr als 20000 Männer ihr Leben gelassen haben. Ich erinnere mich an all die verlorenen Schachpartien gegen Oscar, bis ich plötzlich den Grund für meine ständigen Niederlagen begreife. Ich war immer der Angreifer und Oscar der Verteidiger, der, nachdem er meine stets unverhohlenen Angriffspläne durchschaut hatte, zum grimmigen Gegenangriff übergehen und mich vom Brett fegen konnte. So ist es auch mit unseren Armeen gegangen. Die Republikaner greifen an und offenbaren damit die Konzentration ihrer Kräfte und ihre ärmlichen Ziele. Wir verteidigen uns, organisieren unseren Gegenangriff und drängen sie zurück, bis sie wieder dort sind, wo sie vorher waren, aber geschwächt. Oscar hat es mir erklärt: »Es ist immer leichter, zu reagieren, als originell zu sein. Das gilt sowohl im Leben als auch in der Kunst.«

    26. Januar 1939, Barcelona
    Gestern sind wir hinter den mühelos vorankommenden Panzern in die Stadt einmarschiert. Wir haben am Vortag den Llobregat überschritten und konnten bereits die Verzweiflung riechen, die über dem zusammenbrechenden Widerstand der Republikaner hing. Trotzdem herrschte kein Triumphgefühl. Wir waren so erschöpft, dass wir nicht einmal mehr wussten, ob wir froh waren, noch am Leben zu sein. Am Abend hatten wir die Stadt unter Kontrolle, und erst dann fühlten sich unsere Anhänger sicher genug, sich auf die Straße zu wagen, zu jubeln und natürlich Rache an den Besiegten zu nehmen. Wir haben sie nicht aufgehalten.

15
    Montag, 16. April 2001, Falcóns Haus,
    Calle Bailén, Sevilla

    Ein weiterer Weckruf von 20000 Volt, als hätte man ihn nach einem Herzinfarkt mit Elektroschocks wiederbelebt. Seine Uhr sagte ihm, dass es sechs war, also waren ihm doch noch eineinhalb Stunden totenähnlicher Schlaf vergönnt gewesen. Sein Gehirn hatte ihn mit quälenden Gedanken an seinen Vater, den Bürgerkrieg, die Kunst und den Tod wach gehalten, um dann, als er die Möglichkeit schon verworfen hatte, je wieder schlafen zu können, einfach dichtzumachen. Keine Träume, keine Erholung, aber eine Pause.
    Mit klopfendem Herzen schleppte er sich zu seinem Hometrainer und strampelte los, bis sein Gefühl, verfolgt zu werden, so stark wurde, dass er sich umsah. Er hielt an, stieg ab und fragte sich, ob das Training psychologisch schlecht für ihn war – solch gewaltige Energiereserven zu verbrauchen, um nirgendwohin zu gelangen. Andererseits brauchte er es, um sich aus dem Kreis seines Denkens zu befreien. Denn mit seinem Körper irrte er genauso im Kreis herum wie mit seinem Verstand. Er entschied sich, den Hometrainer einmal für eine Weile ungenutzt zu lassen und lieber wieder laufen zu gehen.
    Nach einer Fahrt durch stille Straßen war er im Büro der Erste. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, einsam und verloren zwischen den spartanischen Möbeln und dem Schweigen des aufeinander getürmten Betons der Jefatura. Als Ramírez um 8.30 Uhr auftauchte, begrüßte Falcón ihn mit der Neuigkeit von Eloisa Gómez’ Verschwinden. Dann fragte er bei der Einsatzbereitschaft nach, doch es hatte kaum Meldungen gegeben. Nach einer Woche leidenschaftlicher Marienverehrung und Bacchanalien war ganz Sevilla schlicht zu erschöpft, um auch nur einen Hörer abzuheben.
    Ramírez packte den Umschlag aus, den er aus der Computerabteilung mitgebracht hatte. Er enthielt alle acht Bilder des verschwindenden Kameramanns vom Friedhof, und der Spezialist hatte aus den beiden besten das Optimum an Schärfe herausgeholt. Trotzdem waren sie keine große Hilfe. Ein Auge war nicht zu erkennen, die Nase lag im Schatten des Schirms der Baseballmütze, und seine Kinnpartie war vom hochgeschlagenen Mantelkragen verdeckt. Der Mann aus der Computerabteilung hatte das Bild einem CCTV-Spezialisten gezeigt, der die Meinung geäußert hatte, dass der Mörder ein Mann zwischen 20 und 40 war.
    »Das hilft uns nicht weiter«, sagte Ramírez, »aber

Weitere Kostenlose Bücher