Der Blumenkrieg
Auftrag. Das hatten sie ihm erklärt. Sie hatten ihm auch erklärt, daß nur er ihn ausführen konnte – niemand sonst! Das hatte ihn wirklich erstaunt. Aber das machte es nicht leichter, mutterseelenallein durch die Straßen zu gehen. Er fragte sich, warum … warum … (er hatte Mühe, sich an den Namen des stillen, ernsten Elfs zu erinnern) warum Caradenus ihn nicht abgeholt hatte wie ursprünglich vorgesehen.
Manchmal mußte er stehenbleiben, um nachzudenken, um sich in Erinnerung zu rufen, was er als nächstes zu tun hatte, doch wenn er das tat, erntete er häufig ärgerliche Blicke von Leuten, die um ihn herumtreten oder -fliegen mußten. Das machte ihm angst. Er rechnete damit, daß jeden Moment jemand mit dem Finger auf ihn zeigte und rief: »Seht mal, das ist doch der Kerl, der aus dem Kraftwerk geflohen ist!« Dann würden die Schutzleute ihn wegbringen, und er würde seine Freunde niemals wiedersehen.
Stracki strich sich die Haare aus den Augen und spähte zu dem Straßenschild hinauf. Wie auf den Schildern davor stand Drudenfußstraße darauf – gut. Seine kleinen Freunde hatten ihm genaue Anweisungen gegeben, was er tun sollte, und unter anderem sollte er immer in der Drudenfußstraße bleiben. Er sollte in Richtung Dämmerstund gehen, doch bevor er dorthin gelangte, noch in Nachtstund, würde er an die Stelle kommen, wo die Drudenfußstraße die Sauermilchstraße kreuzte, und dort die Bushaltestelle finden. Das wußte er nicht etwa deswegen, weil er am Morgen auf dem Weg ins Stadtinnere genau an dieser Haltestelle ausgestiegen war (obwohl er in Begleitung von Caradenus genau das getan hatte), sondern weil seine Freunde ihm viele Male erklärt hatten, wie er zu ihnen zurückfand, falls er in eine Situation geraten sollte, wo er auf sich allein gestellt war. Sie hatten ihm sogar einen Plan gezeichnet, doch den zu lesen und zu verstehen war zu schwer. Leichter fiel es ihm, sich Dinge zu merken, als ob sie der Text eines Liedes wären, so wie er sich das Lied gemerkt hatte, das ihm so gut gefiel, »Blauer Broceliande«, sie sich einfach wieder und wieder vorzusagen, bis er sie so gut kannte wie seinen eigenen Namen.
Und tatsächlich kannte er den Rückweg so gut und vielleicht sogar noch besser, denn es gab Momente, wo ihm sein Name gänzlich entfallen war – wo das einzige, was Stracki Nessel von sich sagen konnte, kein Name war, sondern ein Gedanke, die Erinnerung an diesen grausigen goldenen Augenblick, in dem die Kraft des ganzen Werks ihn durchströmt, in ihm gelebt hatte und er für sein Gefühl kein Elfenwesen mehr gewesen war, sondern ein Tier aus eisigem Feuer, groß wie der Himmel. In diesem Zustand war er nicht mehr der schlaksige Sohn der Witwe Nessel, nicht der Bauernjunge aus Hasel und auch nicht der neue Stracki, dem es so schwerfiel zu denken, aber der seinen neuen Freunden unbedingt helfen wollte, nein, in diesem Zustand gab es nur noch die herrliche, entsetzliche Erinnerung an die Fülle des Lichts in ihm, eine solche Fülle, daß er gemeint hatte, in tausend leuchtende weiße Teilchen zu zerspringen …
Leute rempelten ihn an und schimpften im Vorbeieilen. Jemand schob sich an ihm vorbei und mußte die unter der losen Jacke verborgenen verkrüppelten Flügel gespürt haben, denn sie – es war eine junge Frau mit einer Dienstmädchenhaube, deren eigene Flügel selbst im trüben Herbstlicht glitzerten – warf ihm einen überaus abschätzigen Blick zu.
»Wer’s mag«, sagte sie und ging zügig weiter.
Stracki merkte, daß er wieder mitten auf dem Bürgersteig stehengeblieben war. Er stand im Weg. Er fiel auf. Seine Freunde hatten ihm das nachdrücklich eingeschärft, so nachdrücklich wie die Strecke, die er sich auf ihr Drängen hin eingeprägt hatte: Er sollte nichts tun, womit er irgendwie Aufmerksamkeit erregte.
Es war so schwierig zu denken, wenn man ging, nicht nur weil Denken ohnehin anstrengend war, sondern auch weil er Angst hatte, er könnte an der Stelle vorbeigehen, nach der er Ausschau hielt, während er sich zu erinnern versuchte. Und es hatte heute so viel zu erinnern gegeben! Nicht nur wie er dorthin kam, wo er gewesen war, und wie er zu seinen Freunden zurückfand, sondern auch daß er nicht auf der Straße stehenbleiben oder irgend etwas sagen durfte, womit er sich verdächtig machte. Und dann die Anstrengung, sich an die vielen Dinge zu erinnern, die er für seine Freunde im Stadtzentrum tun sollte, ohne die Hilfe von Caradenus! Das war in mancher Hinsicht das
Weitere Kostenlose Bücher