Der Blumenkrieg
erinnerte sich, wie seine Mutter einmal mit ihm den weiten Weg in die Ortschaft Zwölfbäume gemacht hatte, um ihm einen Wintermantel zu besorgen. Das Geschäft, viel kleiner als dieses hier, hatte »Gebrüder Zinnie« geheißen und hatte so viele unerschwingliche Dinge enthalten, zum Beispiel ein ganzes Zwischengeschoß mit Spielsachen, daß es dem kleinen Stracki wie ein Traum erschienen war.
Er kniff die Augen zusammen. Sollte er zu einem Kaufhaus gehen? Nein, zur Bushaltestelle. Erinnere dich, Stracki! Er war wütend auf sich.
Endlich erspähte er sie, nur wenige Meter hinter ihm in der Drudenfußstraße. Er war einfach daran vorbeigegangen. Wie klug von seinen Freunden, daß sie ihm geraten hatten, auf die Sauermilchstraße zu achten! Die Haltestelle sah genauso aus wie die eine Ecke weiter, wo er heute morgen aus dem Bus gestiegen war: Glaswände und ein graugrünes Kupferdach in der Form eines großen Holunderblattes.
Der Bus zu den Kriegssteinen und zum Hafen, rief er sich in Erinnerung. Das haben sie gesagt. Ja nicht in den falschen Bus einsteigen. Kriegssteine und Hafen.
Es saßen bereits etliche Leute auf der Bank, drei davon alte, schwarz oder grau gekleidete Frauen. Auch zwei jüngere Frauen in Dienstmädchentracht waren darunter, eine davon klein und möglicherweise eine Halbbrownie, sowie ein Mann, dessen teures Jackett wie angegossen saß, was deutlich erkennen ließ, daß er gar keine Flügel hatte, nicht einmal geknickte und geschmolzene wie Stracki Nessel. Er hatte einen Spiegelkoffer aufgeklappt auf dem Schoß und blickte selbst dann nicht auf, als Stracki ihn beinahe anbuffte. Zwar sahen ihn ein paar andere an, aber nur flüchtig. Stracki beschloß, stehenzubleiben, obwohl ihm die Füße weh taten. Er fürchtete, im Sitzen könnte er einschlafen, wie es ihm manchmal passierte. Im Stehen schlief man nicht so schnell ein.
Er beschäftigte sich gerade in Gedanken mit der Frage, ob der Mann im feinen Anzug sich die Flügel von einem Arzt hatte abnehmen lassen, wie die Leute im Kraftwerk es von dem Aufseher Hartriegel behaupteten, als das kleine Dienstmädchen die andere Frau am Ärmel zupfte und zum Himmel zeigte. »Was ist denn das?« fragte sie. Sie klang nicht ängstlich, nur verwundert.
Stracki blickte die Drudenfußstraße Richtung Süden hinunter, und die weit in die Ferne laufende Kette der orange und blauen Ampellichter machte ihn ganz benommen. Es dauerte eine Weile, bis er sah, worauf sie zeigte, nämlich einen eigenartig verwinkelten Schatten, der über den Himmel kam wie ein vom Wind herangetriebenes Blatt.
»So was Großes …!« sagte ihre Freundin.
Stracki hätte fast gelacht, denn das Ding war überhaupt nicht groß, es war klein, er hätte es mit einer Hand zuhalten können wie einen Fleck an der Wand. Dann aber sah er, daß es sehr schnell immer größer wurde, und er begriff, daß er sich geirrt hatte, daß es nur deswegen so klein ausgesehen hatte, weil es weit weg war – er hatte vergessen, wie so etwas gehen konnte –, und dann sah er, was es war, und konnte an gar nichts anderes mehr denken, weil er am ganzen Leib eiskalt wurde. Ihm war zumute, als hätte er einen Eisklumpen verschluckt, der so groß wie sein Kopf war.
»Schwarzes Eisen noch mal!« schrie jemand – es mußte der Mann mit dem Spiegelkoffer gewesen sein, doch Stracki schaute ihn nicht an. Er konnte nichts anderes anschauen als das Ding, das am Himmel größer und größer wurde.
»Aber so was gibt’s doch gar nicht!« kreischte eine der alten Frauen. »Schon lange nicht mehr! Das gibt’s nicht!«
Das herabstürzende Ding verdeckte die Sonne. Sein Schatten legte sich über das Wartehäuschen, und eine Sekunde lang war die Luft vollkommen still. Dann jagte ein Wind durch die Straße wie ein lebendiges Wesen und wirbelte eine Wolke von Papier, Laub und Staub auf, die den ganzen Himmel verdüsterte. Kutschen bremsten quietschend, prallten aufeinander. Eine Hupe tutete und hörte nicht auf.
Um vom Sturz- in den Gleitflug überzugehen, nur wenige Meter über den Spitzen der umstehenden höchsten Gebäude, breitete der riesige schwarze Drache die Flügel aus – Stracki hörte das Donnern und Flattern des Windes in den ausgespannten Häuten. Schilder rissen sich von den Wänden los und polterten auf die Straße, Laternen knallten, und zischend entwich die Kraft mit gasgrünem Leuchten. Normalerweise wäre Stracki so schnell wie möglich davongerannt, doch seine Füße schienen am Pflaster zu kleben. Ein
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